Wohn- und Geschäftshaus in Lübeck
Altes Gewand für neue Räume
Vor ziemlich genau achtzig Jahren, in der Nacht vom 28. auf den
29. März 1942, bombardierten 234 Flugzeuge der britischen Royal Air
Force dreieinhalb Stunden lang die Hansestadt Lübeck und zerstörten
dabei gut die Hälfte ihrer 22.000 Gebäude ganz oder teilweise. Wie
in vielen anderen deutschen und europäischen Städten, die im
Zweiten Weltkrieg derlei große Verluste ihrer gebauten Identität
erlitten, folgt die Baupolitik Lübecks auf den historischen
Parzellen des Gründungsviertels dem Bestreben, historische
Stadtstrukturen wiederaufleben zu lassen – auch wenn derlei gerade
unter Architekturschaffenden in der Regel auf wenig Gegenliebe
stößt. Die Neubauten sollen sich dabei an den lokalen
Traditionsformen orientieren, ohne sie zu kopieren, heißt es im
Gestaltungsleitfaden. Ein Beispiel dafür ist das vom Züricher Büro
Anne Hangebruch Mark Ammann Architekten entworfene Wohn- und
Geschäftshaus in der Fischstraße 16.
Gallerie
Historische Typologie neu interpretiert
Der Neubau beherbergt fünf Mietwohnungen und zwei
Geschäftslokale im Erdgeschoss. Zu Beginn der Planungen stand die
Auseinandersetzung mit dem Kontext und der historischen Bebauung in
Lübeck. Dabei waren vor allem zwei Typen an Häusern prägend: die
historischen Kontorhäuser und das Lübecker Dielenhaus.
Charakteristisch für Letztgenanntes ist die große Diele mit
Galerieebene. Mit Hilfe eines Windensystems wurden Waren von dort
in den Speicher hochgezogen. Der Entwurf kombiniert diese
Typologien mit den Ansprüchen und Bedürfnissen des modernen
Wohnens. Viel Gestaltungsspielraum blieb den Verantwortlichen
allerdings zumindest bei der Außenansicht nicht, denn Breite, Höhe,
Dachneigung, Materialität und Farbgebung waren vorgegeben.
Das Parterre ist über vier Meter hoch, sodass man auch auf den
eingezogenen Galerien aufrecht stehen kann. In den Obergeschossen
befinden sich individuell geschnittene Wohnungen. Das quadratische
Treppenhaus mit Fahrstuhl liegt zentral im Grundriss und erschließt
je zwei Wohnungen pro Stockwerk. Hofseitig wird das Hauptvolumen
durch einen zweistöckigen Anbau ergänzt. Im Inneren sorgen Holz und
Estrich für eine zeitgemäße Atmosphäre, während bei der
Gebäudehülle der an historischen Vorbildern orientierte Einsatz von
Backstein zelebriert wird.
Backsteingotik als Vorbild
Für die Eingliederung in das Unesco-Weltkulturerbe war die
Fassadengestaltung von großer Bedeutung. Die straßenseitige
Gebäudehülle ist in einen zweigeschossigen Sockel aus Sichtbeton
und ein Verblendmauerwerk aus rotem Backstein in den
Obergeschossen gegliedert. Ein charakteristischer Staffelgiebel
überformt das dahinter verborgene Dach, vergrößert die
Fassadenfläche und schafft eine stärkere Fassung des Straßenraums.
Schlanke, aus Formsteinen gebildete Backsteinlisenen zwischen den
Fenstern betonen die Vertikale und finden ihren Abschluss in einem
horizontalen Gesims, das die Blenden des Giebels bekrönt. Damit
sucht der Fassadenentwurf die Nähe zu den gotischen
Backstein-Bürgerhäusern Lübecks.
Insgesamt setzten die Architekten zehn unterschiedliche Formsteine ein. Das Sichtmauerwerk besteht aus einem schleppenden Läuferverband mit Wasserstrichziegeln im Normalformat von 115 x 240 x 71 mm, die von Hell- bis Dunkelrot changieren. Das Sichtmauerwerk wurde flächenbündig verfugt, wodurch die Konturen des Reliefs noch besser zur Geltung kommen. -sh
Bautafel
Architektur: Anne Hangebruch Mark Ammann Architekten, Zürich
Projektbeteiligte: Hamann + Stange, Lübeck (Tragwerk); Ziegelei Hebrok, Hagen am Teutoburger Wald (Ziegelhersteller, Produkt: Roseus-Wasserstrichklinker); Tischlerei Seltz, Bliestorf (Fenster und Türen)
Bauherr/in: Fisch 16 Gbr, Berlin
Fertigstellung: 2021
Standort: Fischstrasse 16, 23552 Lübeck, Deutschland
Bildnachweis: Maximilian Meisse, Berlin
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