Wohnblock Le Candide in Vitry-sur-Seine
Sichtmauerwerk im Waalformat und Balkonbrüstungen aus Weidengeflecht
Nach Voltaire, dem großen Philosphen der Aufklärung hat man in Frankreich das gesamte 18. Jahrhundert benannt und keine Stadt der Republik kommt ohne eine Straße seines Namens aus. Auch Vitry-sur-Seine nahe bei Paris und eigentlich ein Vorort mit großmaßstäblicher Wohnbebauung, hat eine Rue Voltaire und seit Kurzem steht hier ein siebengeschossiges Mehrfamilienhaus mit Sozialwohnungen mit dem Namen Le Candide. Diese satirische Novelle Voltaires endet mit der schnöden Bemerkung des Protagonisten Candide, dass man sich, statt unangemessen optimistisch zu philosophieren, doch bitte wieder der gemeinsamen Gartenarbeit zuwenden möge – und genau das können die Bewohner des neuen Hauses auf dem Dach auch tun. Ein großer Dachgarten mit Gewächshäusern, Terrassen und Spielplatz, mit Hochbeeten für den Gemüseanbau und einem Windrad, das Wasser nach oben befördert, steht hier der gesamten Hausgemeinschaft zur Verfügung.
Gallerie
Entworfen hat den Wohnblock der Pariser Architekt Bruno Rollet. Er gliederte das Volumen auf einem Eckgrundstück in zwei Baukörper mit einer Höhendifferenz von einem Geschoss und legte den Eingang in die drei Meter breite Fuge zwischen den Häusern. Wer sein Auto in der Tiefgarage parkt, nimmt die Einfahrt an der Rue Simone de Beauvoir und erreicht das Treppenhaus von hinten. Einen Kern mit Treppe und Aufzug gibt es lediglich im westlichen Gebäudeteil; wer im Eckhaus wohnt, überquert die Fuge regelmäßig in einem verglasten Verbindungsbauteil. Für ein einprägsames Orientierungssystem mit großen Ziffern, Piktogrammen und starken Farben in den Erschließungszonen sorgte der Grafiker Jean-Claude Chianale.
Die Gliederung in zwei Häuser hat eine Reihe positiver Effekte: es gibt keine langen Flure, jede Wohnung, auch eine kleine Zweizimmerwohnung mit 40 Quadratmetern, hat Fenster in zwei Himmelsrichtungen und einen großen Balkon und in den entstandenen Hausgrößen kennt potenziell jeder jeden. Die insgesamt 29 Wohnungen haben zwischen zwei und fünf Zimmern; zusätzlich zu den Dachterrassen und einer Gemeinschaftsfläche im Erdgeschoss hat jede Wohnung als individuellen Außenraum einen eigenen Balkon oder eine Terrasse.
Die langen Brüstungsbänder der durchgehenden und leicht geschwungenen Balkone dominieren denn auch die Fassade der beiden Häuser. Ihre Materialisierung in natürlichem Weidenflechtwerk erscheint im Kontext zwar ungewöhnlich, harmonisiert aber in Farbe und Struktur mit dem dunkelroten, flachformatigen Ziegel, mit dem die Fassaden verblendet sind. Insgesamt ist das Wohnhaus in Niedrigenergiebauweise errichtet mit einem geringen Heizwärmebedarf. Die Wärmeversorgung erfolgt über Fernwärme, zusätzlich wurde eine Wärmepumpe installiert, die dem anfallenden Grauwasser Wärme entzieht und diese der Wärmeverteilung zuführt. Eine Photovoltaikanlage auf dem Glasdach des Erschließungskerns erzeugt Strom aus der Sonnenenergie, der ins öffentliche Netz eingespeist wird. Der Erlös kommt den Mietern durch eine Senkung der Betriebskosten zu Gute.
Mauerwerk
Das siebengeschossige Wohnhaus ist als Massivbau errichtet worden.
Seine 40 cm starke Außenwand ist eine zweischalige Konstruktion aus
Mauwerwerk mit Kerndämmung; die Decken sind aus Stahlbeton. Die
tragende Wandschale aus Planziegeln hat klimaregulierende und gute
Wärmeschutzeigenschaften. Die großformatigen unverfüllten Ziegel
mit den Maßen 50 x 20 x 29,9 cm (L x B x H) wurden mit mörtelloser
Nut und Feder-Stoßfugenverbindung vermauert. Davor wurden ein 10 cm
dicke Kerndämmung aus Glaswolle aufgebracht. Nur durch einen
Fingerspalt von der Wärmedämmung abgerückt bildet das außen
liegende Sichtmauerwerk aus handgeformtem Klinker im
Waalformat (20,9 x 9,9 x 5 cm) den
Witterungsschutz.
Die zumeist als Fenstertüren ausgebildeten Verbundfenster sind
Holz-Aluminium-Konstruktionen mit Wärmeschutzverglasung und
schlagen innen bündig an. Die außen liegenden Fensterlaibungen
wurden mit Metallpaneelen im selben Farbton wie die Aluminium
Deckenschale der Fenster verkleidet.
Bautafel
Architekten: Bruno Rollet, Paris
Projektbeteiligte: Epdc, Ivry-sur-Seine (Tragwerksplanung); Jean-Claude Chianale, Paris (Design); Demathieu & Bard, La Chapelle-Saint-Mesmin (Generalunternehmen); Bcmc Constructions, Saint-Germain-d'Elle (Bauunternehmen); Céline Langlois, Paris (Freiraumplanung); wienerberger, Angervilliers (Planziegel- und Klinkerhersteller);
Bauherr: Office Public de l'Habitat Vitry-sur-Seine
Fertigstellung: 2012
Standort: 9-11 Rue Voltaire, 94400 Vitry-sur-Seine, Frankreich
Bindnachweis: Luc Boegly, Paris; Céline Langlois, Paris
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