Das Wohnregal in Berlin
Vom Industriebaukasten zum Wohnhaus
Schnell, langlebig und kostengünstig – so läuft es im Industriehallenbau, und so wünscht man es sich auch für den Wohnungsbau. An einer Vereinigung der beiden von Grund auf verschiedenen Typologien versuchte sich bereits Otto Steidle in den 1970er-Jahren mit seinem Pionierprojekt in der Genter Straße in München-Schwabing. Auch in Berlin wird in dieser Hinsicht experimentiert: So befindet sich zentral in Moabit, nur wenige Meter von der belebten Turmstraße entfernt, der aus seriellen Fertigteilen hergestellte Versuchsbau des Architekturbüros FAR frohn+rojas.
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Zwei Jahre lang suchte Marc Frohn als Mitinhaber des Büros ein geeignetes Grundstück für seine Idee des Wohnregals; eine kriegsbedingte Baulücke an der Ecke des Blockrandes zwischen Waldenserstraße und Emdener Straße kam ihm als Bauherr und Planer gerade gelegen. Denn wie so häufig ließ sich das Konzept ausschließlich mit dem Architekten in der Rolle des Bauherrn umsetzen. Das Risiko hat sich gelohnt: Nach nur einem Jahr Planung und einem weiteren Jahr Bauzeit konnte das sechsgeschossige Wohnregal fertiggestellt werden. Die zunächst angesetzten Baukosten wurden bei einem Preis von 1.500 Euro pro Quadratmeter nur um 5% überschritten.
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Rohbau in Rekordzeit
Nach nur sechs Wochen stand bereits der Rohbau. Möglich war dies durch eine frühzeitige und enge Zusammenarbeit mit den Fachplaner*innen des Betonfertigteilwerks. Da die Konstruktion auch ohne zusätzliche Fügungselemente funktionieren sollte, wurden vertikale Elemente wie Stützen und Wände schon im Werk mit auskragenden Auflagern für die anschließenden horizontalen Bauteile ausgebildet, während diese an entsprechender Stelle mit Aussparungen versehen sind. Die anspruchsvolle Geometrie der tragenden Struktur forderte einen hohen Detailgrad in der Planung und ein gutes Verständnis der Schalungstechnik.
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Um diese puzzleartige Fügung zu ermöglichen, nahm die Vorplanung einen längeren Bearbeitungszeitraum in Anspruch. Neben der technischen Aneignung des industriellen Bausystems – wie etwa die eines für den Wohnungsbau eher untypischen Fügungsmaßes von 20 Millimetern – waren die sichtbar belassenen Oberflächen in der Planung des Schalungsprozesses zu beachten. Umso schneller ließ sich die Konstruktion nach Herstellung aller Bauteile umsetzen: Mithilfe der maßgenauen Betonfertigteile wurde wöchentlich jeweils ein Geschoss fertiggestellt.
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Langlebig und Rückbaubar
Die weiten Toleranzfugen zwischen den Bauteilen machen die einzelnen Elemente des Systembaus einfach ablesbar. An den Längsseiten des Gebäudes folgen die massiven Betonstützen und Unterzüge dem Konstruktionsraster und tragen die quergespannten, 13,50 Meter langen TT-Deckenabschnitte. An der Stirnseite des Hauses steift ein Erschließungskern mit offenem Treppenhaus die Konstruktion aus; südlich schließt die Brandwand des Nachbargebäudes an. Die gesamte Struktur ist dank des außenliegenden Tragwerkes resilient: Aufgrund einer klaren Hierarchie des Skelettes gegenüber einem stützenfreien Innenraum lässt sie sich an künftige Nutzungen anpassen und bei Bedarf sogar erweitern.
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Die Materialwahl erfüllt die Kriterien für ein nachhaltiges Gebäude grundsätzlich nicht. Durch den Einsatz dauerhafter und reversibler Bauteile zeigt das Wohnhaus jedoch einen alternativen Ansatz: Das Konstruktionssystem lässt sich je nach Fügetechnik zerstörungsfrei zurückbauen und weiterverwenden. Die statischen Informationen zu den Bauteilen sind für die Wiederverwertung in Form eines BIM-Modells jederzeit abrufbar. Mit einer durchschnittlichen Lebenszyklusdauer von 120 Jahren lassen sich große Mengen an Material und CO2-Emissionen einsparen. -sm
Bautafel
Architektur: FAR frohn&rojas, Berlin
Projektbeteiligte: IB Paasche, Leipzig (Tragwerksplanung); HEZ-Systeme, Kühbach (Heizungsplanung); Fa. Zwerg, Berlin (Lüftung- und Sanitär); Gerdes Hubert Ingenieurbüro, Leipzig (Bauphysik); Ingenieurbüro für Brandschutz Dipl.-Ing. Ingolf Kühn, Dresden (Brandschutz); Thomas Gruppe, Simmern (Hersteller Betonfertigteile)
Bauherrschaft: privat
Fertigstellung: 2019
Standort: Waldenser Straße 25, 10551 Berlin
Bildnachweis: David von Becker, Berlin; Tobias Wootton; FAR frohn&rojas, Berlin