Shoah Memorial in Drancy
Ort der Erinnerung aus hellem Sichtbeton
Schreckliches geschah in der französischen Kleinstadt Drancy während des Zweiten Weltkriegs. Dabei fing alles so vielversprechend an: Anfang der 1930er Jahre sollte in dem rund 20 Kilometer von Paris entfernten Ort die Cité de la Muette entstehen, eine als vertikale Gartenstadt konzipierte Mustersiedlung nach Plänen der Architekten Marcel Lods und Eugène Beaudouin. Das Vorzeigeprojekt der französischen Moderne fand weltweit begeisterte Anerkennung. Dann kam der Krieg und mit ihm das Ende der Bauarbeiten. Das Schlimmste stand jedoch noch bevor: Im Juni 1940 beschlagnahmten die deutschen Besatzer den halb fertigen Gebäudekomplex und machten ihn zum Schauplatz eines grausamen Verbrechens. Zwischen 1943 und 1945 internierten sie hier 65.000 Menschen, hauptsächlich französische Juden aber auch Angehörige anderer ethnischer oder sozialer Minderheiten und deponierten sie nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager. Nicht einmal 1.500 Menschen überlebten.
Gallerie
Trotz des gewaltigen Ausmaßes des in Drancy begangenen Verbrechens begann die Aufarbeitung der Geschichte dieses Ortes verhältnismäßig spät. Unmittelbar nach Kriegsende wurde zunächst die u-förmige Wohnanlage fertiggestellt und ihrem ursprünglichen Zweck entsprechend genutzt. Erst dreißig Jahre später errichtete man auf dem ehemaligen Lagergelände ein Mahnmal und stellte einen Güterwaggon auf, der als Museum und Gedenkstätte diente. Eine Stiftung veranlasste schließlich den Bau des Shoah Memorials an der Avenue Jean-Jaurés in unmittelbarer Nähe des Deportationslagers. Die Planung übernahm das Schweizer Architekturbüro Diener & Diener, die den zuvor ausgelobten Wettbewerb gewonnen hatten.
Die Architekten standen vor der schwierigen Aufgabe, ein Bauwerk zu schaffen, in dem die Geschichte einer Vergangenheit vermittelt werden soll, deren Schrecken schon mit Worten nicht zu beschreiben ist. Sie begegneten dem Problem mit Nüchternheit und Präzision. Ihr Dokumentationszentrum sollte nicht das Grauen verkörpern, sondern vielmehr ein Behältnis sein für den Akt des Erinnerns. Und so verrät von außen nichts, welchem Zweck das viergeschossige Gebäude aus hellem Sichtbeton dient. Zum ehemaligen Lager auf der gegenüberliegenden Straßenseite hin ausgerichtet, zeigt es sich mit großflächigen Verglasungen und einer dezenten Staffelung aus geschossweise immer weiter auskragenden Deckenplatten.
Seitlich reiht sich der Neubau in die vorhandene Bauflucht ein – und steht doch für sich. Eine deutlich ausgebildete Fuge in Form eines zurückspringenden, fensterlosen Gebäudeteils, der Nebenräume und ein Treppenhaus aufnimmt, sorgt für einen angemessenen Abstand zu den Nachbarhäusern. Im Erdgeschoss springt die Fassade in der Bauflucht zurück. Sie ist außerdem leicht schräg gestellt und vollständig verspiegelt. Nähern sich Besucher dem hier angeordneten Eingang, sehen sie sich selbst und den nach wie vor bewohnten Gebäudekomplex der Cité de la Muette in ihrem Rücken. Erst nach Betätigung einer Klingel öffnet sich die Tür; anschließend sind Sicherheitsschleusen zu passieren. Dahinter liegt ein großzügiger Empfangsraum, der über ein Fensterband an der Längsseite Licht erhellt. Auf der Rückseite des Gebäudes sind Sanitär- und Nebenräume sowie ein zweites Treppenhaus angeordnet. Die anschließende Außenfassade ist komplett fensterlos. Zwei unterirdische Geschosse nehmen das Archiv auf.
In den ersten beiden Obergeschossen befinden sich das Dokumentationszentrum sowie Vortrags- und Seminarräume, in der obersten Etage die permanente Ausstellung. Akten, Briefe und Filme vermitteln ein eindrucksvolles Bild über die Zustände und Bedingungen im Lager Drancy. Um die Besucher aktiv in den Prozess des Erinnerns einzubeziehen, verzichteten die Architekten auf eine klare Trennung zwischen Besucherzonen und funktionalen Bereichen. Auch Farben sucht man vergeblich: die Wände und Decken sind weiß, die Böden hellgrau, die aus Holz gefertigten Einbauten schwarz. Weiß und Schwarz sind auch die Möbel. Die nüchterne Gestaltung lenkt den Blick durch die raumhohen und gebäudebreiten Glasfronten auf den ehemaligen Lagerkomplex auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Beton
Statt einer lauten Architektursprache setzten die Planer auf
Zurückhaltung und eine extrem präzise Ausführung, vor allem der
Betonarbeiten. Das Gebäude wurde aus Ortbeton mit
glatter Schalung errichtet. Die Deckenplatten auf der Nordseite
kragen pro Geschoss einige Zentimeter aus, in die tragende
Längswand der Westfassade sind horizontale Fensterbänder
eingeschnitten. Nach Fertigstellung des Gebäudes wurden sämtliche
Betonoberflächen mit einer weißen Lasur versehen, welche die
charakteristischen Strukturen des Betons durchschimmern
lässt.
Bautafel
Architekten: Diener & Diener Architekten, Basel
Projektbeteiligte: Setec bâtiment, Paris (Tragwerksplanung); RFR Structures, Paris (Fassade); Atelux Ingéniere, Conflans-Sainte-Honorine / Alto Ingéniere, Champs sûr Marne (Gebäudetechnik); JP Lanoureux, Paris / Licht, Kunst Licht, Bonn (Lichtplanung); Goode & Associates, Sudbury / Casso, Paris (Sicherheitstechnik); JP Lamoureux, Paris (Akustik); Heller Enterprises, Zürich (Museumskonzeption)
Bauherr: Mémorial de la Shoah, Paris
Standort: 110 - 112 Avenue Jean-Jaurès, 93700 Drancy, Frankreich
Fertigstellung: 2012
Bildnachweis: Christian Richters, Berlin
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