Firmenzentrale Thyssen Krupp in Essen
Filigrane Seilnetzkonstruktion als Landschaftsfenster
Mit der Verlegung an seinen traditionellen Unternehmenssitz nach Essen entschied sich einer der größten deutschen Stahl- und Energiekonzerne für einen baulichen Neuanfang. Eigens hierfür wurde das sogenannte ThyssenKrupp Quartier erbaut, ein Areal, auf dem die an bisher verschiedenen Standorten verteilten Verwaltungsgebäude des Unternehmens zusammengeführt wurden. Entworfen wurde es von einer Arbeitsgemeinschaft aus dem Kölner Architekturbüro JSWD und den Pariser Architekten Chaix und Morel et Associés. Sie schufen eine orthogonal gegliederte, großzügig um einen Wasserplatz angelegte Campus-Anlage, die von kleinen Plätzen belebt wird. Die Relation zwischen Gebäuden und Freiräumen wirkt ausgewogen; Rückzugs- und Kommunikationsmöglichkeiten sind auf den vielen Plätzen und Wegen zwischen den Gebäuden gegeben.
Gallerie
Repräsentativer und funktionaler Mittelpunkt des neuen Quartiers bildet die Q1 genannte Firmenzentrale in der Altendorfer Straße. Mit einer Höhe von 50 Metern überragt sie alle übrigen Gebäude auf dem Campus. Ihre Form gleicht der eines aus zusammengesetzten L-förmigen Einzelbaukörpern arrangierten Kubus. Ineinander verschränkt umschließen sie ein zentrales Atrium und bilden zugleich den baulichen Rahmen für zwei riesige Landschaftsfenster an der nördlichen und südlichen Stirnseite des dreizehngeschossigen Gebäudes sowie für eine große gläserne Öffnung im Dach des Atriums. Dieses erstreckt sich über zehn Geschosse und wird durch zahlreiche Zwischenebenen und Stege gegliedert.
Glas
Panoramafenster und Atriumdach sorgen tagsüber für einen maximalen
Lichteinfall ins Gebäudeinnere. Sie versorgen nicht nur den
Innenhof mit natürlichem Licht, sondern auch zahlreiche Büros, die
sich zum Atrium orientieren. Die als zweiachsig gespannte
Seilnetzkonstruktionen umgesetzten Panoramafenster vermitteln von
außen den Eindruck einer einzigen, überdimensionalen Glasscheibe.
Ihre Abmessungen betragen 25,60 m in der Breite und 28,10 m in der
Höhe und ermöglichen Mitarbeitern und Besuchern weite Aus- und
Durchblicke. Um die hohe Transparenz nicht durch unnötig kleine
Isolierglasscheiben und breite Silikonfugen zunichte zu machen,
kamen punktförmig gehaltene Verglasungselemente zum Einsatz. Deren
beachtliche Abmessungen von 2,15 m in der Breite und 3,60 m in der
Höhe wurden im Vorfeld in einer Machbarkeitsanalyse ermittelt. Der
Aufbau der zweifach Isolierglasscheiben mit einer Gesamtdicke von
45 mm setzt sich aus 12 mm ESG, 16 mm SZR
und 2 x 8 Floatglas zusammen. Als Basisglas wurde
lichtdurchlässiges, eisenoxidarmes Weißglas verwendet. Insgesamt
wurden mehr als 16.000 m² Glas verbaut – 7.500 m² als
Sonnenschutzglas. Dieses reduziert das Aufheizen der Büroräume und
verringert gleichzeitig den Blendeffekt.
Die Befestigung der Glasscheiben an der Seilnetzkonstruktion erfolgte durch punktförmige Klemmhalter aus Stahlguss. Um dem hohen Eigengewicht und dem exzentrischen Anschluss entgegenzuwirken, wurden in vertikaler Richtung Stahlseilpaare zum kombinierten Lastabtrag der Gewichtslasten eingesetzt. Verwendet wurden galvanisch verzinkte, vollverschlossene Stahlseile. Die Seildicke in vertikaler Richtung beträgt 30 mm (Vorspannkraft je Seil: 150 kN), in horizontaler Richtung 32 mm (Vorspannkraft: 340 kN). Unterhalb der 11. Geschossebene schließen die vertikalen Stahlseile an einen dreigeschossigen Fachwerkträger an. Die Kräfte aus den Horizontalseilen werden stirnseitig in die Geschossdecken eingeleitet.
Genauso wie die beiden Panoramafenster wurde auch die Dachverglasung über dem Atrium als seilvorgespannte Konstruktion ausgeführt. Mit Abmessungen von jeweils 2 x 2 m tragen die Glasscheiben aus Zweifach-Isolierglas ebenso wie die minimierten Profile der Glaslager zur extrem hohen Transparenz bei. Die eigentliche Tragkonstruktion des quadratischen Atriumdaches mit Kantenlängen von etwa 20 m ist eine aus zwei Ebenen bestehende Seilunterspannung. Die hierfür verwendeten vorgespannten Seile sind in einem Abstand von 2 m zueinander angeordnet und parabelförmig gekrümmt. Vertikale Stahlstäbe sorgen für die Trennung der beiden Ebenen. Da die Glasebene des Atriumdaches den gleichen Krümmungsradius aufweist wie die Seilunterspannung, bleiben alle Scheiben eben.
Aufgrund der im Vergleich zu den Panoramafenstern geringeren
Vorspannkräfte (125 kN in der oberen, 75 kN in der
unteren Seilebene) wurden in der Öffnung des Atriumdaches offene
Spiralseile verwendet. Je Anbindungspunkt werden etwa 200 kN
Horizontallast in die umgebenden Geschossdecken eingeleitet.
Extreme Einflüsse auf die Gesamtkonstruktion, wie
Temperaturwechsel, Wind, Auflagersetzung und außergewöhnliche
Schneelasten wurden bei der Bemessung berücksichtigt. Trotzdem ist die
zu Reinigungszwecken begehbare Konstruktion filigran und hauchdünn.
Entmaterialisiert scheint das Glasdach über dem Atrium zu schweben
und schützt es doch zuverlässig vor allen
Wettereinwirkungen.
Bautafel
Architekten: JSWD Architekten, Köln und Chaix & Morel et associés, Paris
Projektbeteiligte: ECE, Hamburg, (Generalplanung); Werner Sobek Ingenieure Stuttgart (Statik Sonderkonstruktion Fassade); Müller BBM, Gelsenkirchen (Bauphysik); Ingenieurgesellschaft Niemann und Partner, Bochum (Wind- und Schneegutachten); Hefi, Talheim (Ausführung Panorama- und Atriumverglasung); Frener & Reifer, Brixen (Planung Sonnenschutz und Primärglasfassade); MHZ (Blendschutzhersteller)
Bauherr: Thyssen Krupp, Essen
Fertigstellung: 2010
Standort: Altendorfer Straße 120, Essen
Bildnachweis: Christian Richters, Münster; Pia Bimashofer, Wien; JSWD Architekten, Köln; Thyssen Krupp, Essen
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