Futurium in Berlin
Structural-Glazing-Fassade aus Gussglas
Mit seiner matt metallisch changierenden Gebäudehülle mutet das Futurium zwischen den uniformen Rasterfassaden am Berliner Spreebogen wie ein gerade gelandetes Raumschiff an. Entworfen haben den Neubau Richter Musikowski Architekten, die als Sieger aus einem von der Bundesregierung ausgelobten Wettbewerb hervorgegangen waren. Ab September 2019 soll das zunächst Haus der Zukunft genannte Veranstaltungs- und Ausstellungszentrum interessierte Besucher über aktuelle und künftige Entwicklungen aus Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft informieren.
Gallerie
Auf einem nahezu dreieckigen Grundstück zwischen S-Bahngleisen im Norden, der Spree im Süden, einem Bürogebäude im Osten und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung im Westen erhebt sich der 22 Meter hohe Bau auf fünfeckigem Grundriss mit unterschiedlich langen Seiten. Hinein geht es über zwei gleichrangige Haupteingänge, die unter der jeweils weit auskragenden Nord- bzw. Südfassade liegen. Darüber erstrecken sich zwei 28 Meter breite und acht bzw. elf Meter hohe Glasflächen, die als Panoramafenster weite Ausblicke erlauben und die Verbindung zum Stadtraum herstellen.
Im Inneren bieten drei Etagen, eine davon unterirdisch,
insgesamt rund 8.000 Quadratmeter Nutzfläche. Im Erdgeschoss
verbindet das lichte Foyer die beiden Eingänge. Hier befinden sich
neben Garderobe, Gastronomie und Toiletten auch ein 670
Quadratmeter großer Multifunktionssaal, der sich durch mobile
Trennwände und dank variabler Haustechnik in mehrere Räume
unterteilen lässt. Hinter der abgehängten Decke aus weiß lackierten
Aluminiumprofilen, die sich durch das gesamte Erdgeschoss zieht,
erzeugen 840 versetzt angeordnete Langfeldleuchten eine Stimmung,
die an das wattierte Licht von Wolken denken lässt. Im Gegensatz
dazu muten das Ober- und Untergeschoss wie Black Boxes an. Auf
beiden Ebenen sind die Raumoberflächen dunkel gestaltet. Im
fensterlosen Untergeschoss befindet sich das 600 Quadratmeter große
Futurium Lab, ein sechs Meter hoher Ausstellungsraum mit
Werkstattcharakter. Hell sind einzig die 126 weißen Lichtschirme,
die rasterförmig an der schwarzen Decke aufgehängt sind. Das
Obergeschoss bietet 3.200 Quadratmeter stützenfreie
Ausstellungsfläche. Sie wird durch zwei Galerieebenen zoniert und
durch die beiden Glasfronten belichtet. Aus tragwerksplanerischer
Sicht stellte diese Ebene eine statische Herausforderung dar. Die
über beiden Eingängen weit auskragenden Decken wurden über
Zugbänder nach oben an im Dach versteckte Stahlhohlkästen mit einer
Spannweite von 32 m gehängt, die wiederum die Lasten in die
massiven und vorgespannten Wandscheiben leiten.
Mit einem Primärenergiebedarf von lediglich 16,8 kWh/m² besitzt
das Futurium Vorzeigecharakter. Sein Dach ist großflächig mit
Solar- und Photovoltaik-Modulen bestückt, rundum verläuft ein Weg,
der Besuchern sowohl einen Blick auf die Energiekollektoren als
auch auf das Berliner Stadtpanorama eröffnet. Um die Sonnenwärme
und hausinterne Energiegewinne für den Betrieb des Gebäudes nutzbar
zu machen, wurden fünf Hybridspeicher eingesetzt, die das latente
Phasenwechselmaterial Paraffin mit dem sensiblen Speichermedium
Wasser verbinden und so die achtfache Kapazität von herkömmlichen
Wasserspeichern erreichen. Für alle sichtbar sind sie hinter
dunklen Glasscheiben mit runden Auslassungen als gestalterisches
Element neben dem Erschließungstrakt mit Fahrstuhl in den
Gebäudekern integriert.
Fassade aus Glas
Auf der Ost- und Westseite ist die
Gebäudehülle als hinterlüftete Vorhangfassade ausgebildet. Ihr
liegt ein rautenförmiges Raster zugrunde, das sich aus 8.000
quadratischen Edelstahlkassetten mit einer Kantenlänge von 70 cm
und einer Tiefe von 12 cm zusammensetzt. Die Kassetten sind mit
Verbundsicherheitsglas (VSG) und dahinter
angeordneten Reflektoren aus poliertem Edelstahl bestückt. Die
Befestigung des Glases auf dem Stahlblech erfolgte mittels eines
bauaufsichtlich zugelassenen, zweikomponentigen Silikonklebstoff
(Structural-Glazing oder kurz SG bzw. SGG
genannt). Das VSG besteht aus einer außen liegenden,
eisenoxidarmen und 6 mm starken eisenoxidarmen Gussglasscheibe
(Struktur nur außenseitig) und einer konventionellen, 4 mm
starken Floatglasscheibe auf der Rückseite. Die beiden Scheiben
wurden zu teilvorgespanntem Glas (TVG) weiterverarbeitet;
als Verbundmaterial kam eine 1,52 mm dicke EVA-Folie
zum Einsatz. Um eine bessere Lichtstreuung zu erzielen, wurde das
Gussglas zusätzlich mit einem Punktraster
bedruckt bzw. emailliert. Der Bedruckungsgrad variiert je nach
Anordnung der Glaselelemente zwischen 1/4 bis 4/4 der Fläche.
Besonderheit Glasverklebung
Eine Besonderheit stellte bei dem Futurium die Glasverklebung dar. Erstmals wurde in Deutschland für ein Bauvorhaben dieser Größenordnung auf eine üblicherweise bauordnungsrechtlich vorgeschriebene mechanische Sicherung der Verglasungen verzichtet. Dies war nur aufgrund der detaillierten sachverständigen Bewertung der Konstruktion in Kombination mit umfangreichen Bauteilversuchen zur Sicherstellung von Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit möglich. Schlussendlich wurde für die Structural-Glazing-Fassade eine Zustimmung im Einzelfall (ZiE) erteilt. Die Verklebung der Verglasungen mit den Edelstahlkassetten erfolgte umlaufend linienförmig. Vertikal angebrachte mechanische Lager dienen ausschließlich dem Lastabtrag des Scheibeneigengewichts. Alle veränderlichen Einwirkungen (Windsog und -druck, Temperaturbeanspruchungen, etc.) werden nur über die SG-Verklebung abgetragen.
Über den Eingängen
An den schrägen Deckenunterseiten über den Eingängen wurden
2.500 Edelstahlkassettenelemente mit einer Gesamtfläche von rund
1.200 Quadratmetern in horizontaler Einbaulage (0° bis 70°
gegenüber der Vertikalen) verbaut. Etwa ein Viertel davon ist mit
Beleuchtungskörpern bestückt, für die das Glas mit kreisrunden
Bohrung versehen wurde. Die Kassetten wurden wie alle anderen auch
an einer rahmenförmigen Stahlunterkonstruktion befestigt, die
zwängungsarm an der massiven Primärtragkonstruktion des Neubaus
montiert ist. Da es sich gemäß DIN 18008-2 Glas im Bauwesen –
Bemessungs- und Konstruktionsregeln – Teil 2:
Linienförmig gelagerte Verglasungen hier jedoch um
Horizontalverglasungen handelt, war eine mechanische Lagerung ohne
aufgesetzte Halter nicht erlaubt. Zwar übernimmt auch in der
geneigten Anordnung die SG-Verklebung den Lastabtrag – und
planmäßig auch das Eigengewicht der Verglasung – im Versagensfall
verhindern Nothalter aber das Herabfallen der Scheiben. Verwendet
wurden Senkkopfhalter, die in der inneren Glasscheibe des VSG
angebracht und über schlaffe Edelstahlseile mit den
Edelstahlkassetten verbunden sind. Bei einem Versagen der
Verklebung fällt die Horizontalverglasung aus der Kassette und wird
planmäßig über die Seile gehalten. Im Rahmen von Bauteilversuchen
wurde die Tragfähigkeit bzw. Resttragfähigkeit nachgewiesen.
Bautafel
Architekten: Richter Musikowski Architekten, Berlin
Projektbeteiligte: BAM Deutschland, Stuttgart (GU); AL Promt, Constanta (Fassadenbau); SGS Schütz Goldschmidt Schneider, Heusenstamm (Fassadenstatik, Sachverständige Bewertung (ZiE) und fachliche Unterstützung der Bauleitung); Arup, Berlin (Fassadenberatung); BAM Bundesanstalt für Materialprüfung, Berlin (bautechnische Versuche SG-Verklebung); Staatliche Materialprüfungsanstalt, Darmstadt (bautechnische Versuche Verglasung); Schüßler Plan, Berlin (Tragwerksplanung); Saint-Gobain Glass, Aachen (Glashersteller: SGG Decorglass SR Listral L, Vario DZ Climatop XN II, Vario DZ Climatop One II, SGG Planiclear)
Bauherr: Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Berlin; Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin; Futurium, Berlin
Fertigstellung: 2017
Standort: Alexanderufer 2, 10117 Berlin
Bildnachweis: Schnepp Renou; Berlin/Paris; Arup/Rossmann, Berlin; Richter Musikowski, Berlin
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