Crystal Houses in Amsterdam
Mauerwerk aus geklebten Glasziegeln
Galten Glassteine lange Zeit als bieder und bauphysikalisch überholt, erleben sie derzeit eine kleine Renaissance. Ein technisch wie optisch herausragendes Beispiel findet sich in der Amsterdamer Nobel-Einkaufsmeile P.C. Hooftstraat, wo MVRDV Architekten den Flagshipstore für das französische Modelabel Chanel entwarfen. Während sie die obere Gebäudehälfte im historisch anmutenden Stil der Nachbarhäuser mit roter Ziegelfassade und kleinen Dachgiebeln einschließlich Balken und Flaschenzügen gestalteten, ersetzten sie die Mauerziegel in den unteren beiden Geschossen durch transparente Glasblöcke. Diese gleichen den Mauersteinen bis ins kleinste Detail und wurden selbst für die Fenster- und Türrahmen verwendet. Der Übergang zwischen Glas- und Mauerziegeln vollzieht sich – einem Puzzle ähnlich – im Bereich der Fensterstürze des Mezzaningeschosses.
Gallerie
Für das Crystal Houses genannte Gebäude musste ein Vorgängerbau weichen, der nicht genügend Platz bot. Durch seinen Abriss konnte eine Nutzfläche von 620 Quadratmetern für das Geschäft erreicht werden, außerdem eine Raumhöhe von zehn Metern. Über dem Laden ist zudem eine 220 Quadratmeter große Wohnung entstanden. Geheizt und gekühlt wird mit einer Wärmpumpe, deren Tiefensonden 170 Meter in den Boden reichen. Trotz der Glasfront und dem damit verbundenen hohen Licht- und Wärmeeinfall sorgt sie für ein ganzjährig angenehmes Raumklima.
Glas
Gut ein Jahr arbeiteten fünf bis zehn Spezialisten an der
Entwicklung und Umsetzung des gläsernen Mauerwerks. Dabei galt es
neben den technischen und optischen Ansprüchen an die Glasbausteine
auch den richtigen Klebstoff und die passende Fügetechnik zu
finden. Zum Einsatz kamen schließlich ganz unterschiedliche
Methoden, die von anspruchsvoller Lasertechnik über der Nutzung von
UV-Licht bis hin zur Verwendung von Milch (!) für das Nivellieren
der ersten Steinreihen reichten. Mithilfe der Milch ließen sich
minimalste Unregelmäßigkeiten erfassen, die mit herkömmlichen
Materialien aufgrund der Transparenz des eingesetzten Weißglases
nicht ohne weiteres messbar gewesen wären.
Festigkeitsuntersuchungen zur Tragfähigkeit des gläsernen
Mauerwerks wurden an der Universität Delft geführt.
Jeder einzelne Glasblock wurde von Hand im Gussverfahren mit abgerundeten Ecken in einem Radius von 3 mm angefertigt. Von den insgesamt fünf Ziegelgrößen beträgt das am häufigsten vermauerte Format 210 x 105 x 65 mm. Bei der Herstellung durfte sowohl die Ebenheit/Planität der Oberflächen als auch die maximale Abmessungsabweichung in jeder Richtung ± 0,25 mm nicht überschreiten. Gleichzeitig mussten die Winkel genaue maßhaltig sein, um die Steine exakt orthogonal aneinander fügen zu können. Hierzu wurden ihre Oberflächen in einem aufwendigen Prozess maschinell und teilweise in Handarbeit geschliffen und poliert. Um ungewollte Eigenspannungszustände durch die ungleichmäßige Abkühlung der heißen Glasschmelze aufgrund der massiven Ausbildung der Blöcke zu verhindern, wurden sie in einem kontrollierten Abkühlprozess (Feinkühlung) langsam heruntergekühlt. Auf der Baustelle wurden die Glassteine nicht mit einer mineralischen Mörtelschicht verbunden, sondern mit einem unter UV-Licht ausgehärteten transparenten Spezialklebstoff.
Da das Primärtragwerk aus Stahlträgern besteht, übernimmt das
gläserne Mauerwerk außer dem Eigengewicht keine weiteren Lasten.
Allerdings muss es einwirkende Windbeanspruchungen sicher
abgetragen können. Die dazu notwendige Stabilität gewährleisten
innenseitig verzahnte Querwände. Fenster- und Türstürze wurden als
gemauerte Druckbögen ausgebildet.
Video
Bautafel
Architekten: MVRDV, Rotterdam mit Gietermans & Van Dijk Architects, Amsterdam
Projektbeteiligte: Brouwer & Kok, Badhoevedorp und ABT Consulting Engineers, Delft (Tragwerksplanung); Delft University of Technology (wissenschaftliche Unterstützung Glassfassade); Wessels, Zeist (Bauunternehmen); Poesia divisione di Vetreria Resanese, Resana (Hersteller Glasziegel); Delo Industrie Klebstoffe, Windach (Hersteller UV-Klebstoff)
Bauherr: Warenar Real Estate, Amsterdam
Fertigstellung: 2016
Standort: Pieter Cornelisz Hooftstraat 94 - 96, 1071 CA Amsterdam, Niederlande
Bildnachweis: Daria Scagliola & Stijn Brakkee, Rotterdam; Poesia, Resana und MVRDV, Rotterdam
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