Sanierung der Stadthalle Göttingen
Vorhangfassade mit alten und neuen Fliesen
Kachelofen oder auch Schwimmbad nennen die Menschen in Göttingen ihre Stadthalle. Von 1962 bis 1964 wurde sie nach einem Entwurf des Wiesbadener Eiermann-Schülers Rainer Schell errichtet, mit – wen wundert‘s – einer markanten Fassade mit mehrfarbigen, quadratischen Keramikplatten. Mehr als 50 Jahre später, nachdem die Stadtverwaltung sich gegen einen Abriss entschieden hatte, konnten die Büros SSP Architekten Ingenieure und soll sasse Architekten den denkmalwürdigen Bau sanieren.
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Die Stadthalle ist die größte Konzerthalle der Region und auch Spielstätte des Göttinger Symphonieorchesters sowie der Internationalen Händelfestspiele. Dafür bietet sie etwa 2.600 m2 Veranstaltungsfläche auf drei Ebenen und eine Gesamtnutzfläche von knapp 5.400 m2. Der Baukörper besteht aus einer eher flachen Basis mit Seitenlängen von 50 x 40 Metern und einem sechseckigen Dachaufbau, der den Zuschauerraum nach oben erweitert.
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Anbau mit Dachterrasse
Im Westen befindet sich der Haupteingang, direkt gegenüber der Kirche St. Albani und dem Albaniplatz, auf dem aktuell noch geparkt werden darf. Dahinter beginnt die historische Altstadt. Im Norden führt die Herzberger Landstraße aus dem Zentrum an der Konzerthalle vorbei. Frei stehende, villenartige Häuser finden sich im Osten, und im Süden der denkmalgeschützte Cheltenham-Park. Auf diese Grünanlage ist ein zweigeschossiger Anbau ausgerichtet. Seine zwei seitlichen Freitreppen führen zu einer 900 m2 großen Dachterrasse, die sich auf Parkettniveau des Konzertsaals befindet – ideal für etwas Frischluft in den Pausen.
Bereits vor der Sanierung befand sich hier ein Anbau mit ähnlicher Kubatur und einem Bronzerelief an der Albaniplatz-Fassade. Das 310 x 350 cm große Kunstwerk mit dem Titel „Die Stadt“ wurde beim Neubau an gleicher Stelle positioniert. Geschaffen hat es der Braunschweiger Bildhauer Jürgen Weber, auf Initiative des Stadthallen-Architekten Rainer Schell.
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Neue Technik im Saal
Im Inneren wurde der skulptural wirkende Foyerbereich mit Granit-Wandverkleidung weitgehend erhalten. Der Saal erhielt außenseitig, zum Foyer hin, eine veränderte Wandverkleidung aus Holzlamellen mit Leuchtbändern. Im Saal selbst fanden grundlegende Veränderungen statt. Prägendes Element ist eine flexible LED-Lichtdecke, mit der das auf unterschiedliche Nutzungsarten reagieren können. Die Verkleidungen und die Haustechnik wurden komplett erneuert, die vorhandene Saalbestuhlung dagegen aufgearbeitet.
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Bunte Quadrate mit Profil
Im Vergleich zu vorher scheint der Bau „gewachsen“ zu sein. Der Schein trügt, Kubatur und Fassadenfläche sind nahezu gleich geblieben und dennoch sind einige der farbigen Fliesen hinzugekommen. Der Grund: Die für die 1960er-Jahre typische Horizontalität der Fassade mit Sockel-, Mittel- und Dachzone wurde aufgegeben. Diese Gliederung entstand durch die unterschiedliche Farbgebung der allesamt 50 x 50 cm großen Keramikplatten. Im bauzeitlichen Zustand waren die obersten und untersten vier der insgesamt 26 Reihen weiß, die 18 dazwischen Dunkel- und Mittelblau, Lila und Rot. Von weitem betrachtet erzeugte dieses Farbmuster ein breites, auberginefarbenes Band. Beim Herantreten ist erkennbar, dass jede Kachel mit einer Kreis- oder einer Dreiecksform profiliert ist.
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Mehr Farbe
Die tragenden Betonaußenwände mussten saniert und gedämmt werden. Im Zuge dessen wurden die über 6.000 Fassadenfliesen dokumentiert, sorgsam rückgebaut, mit 3.000 neuen gemischt und schließlich wieder montiert. Keramikfachleute reinigten die Oberflächen von Smog, Silikonen, Kleber und Graffiti. Außerdem tönten sie die hellen Kanten ab, da sie später nicht durch die Fugen der vorgehängten hinterlüfteten Fassade hervorblitzen sollten. Währenddessen wurden die neuen Keramikplatten gegossen. Sie haben das gleiche Format wie ihre bauzeitlichen Pendants, ergänzen aber das Relief aus Dreiecken und Kreisen um Quadrate und zwei neue Farbtöne. Diese – ein etwas gräulicher und ein eher rotbrauner – wurden mithilfe von Handmustern und einem Mock-Up ermittelt, damit sie auch bei unterschiedlichen Lichtsituationen möglichst gut zu den Bestandsfarben passen. Durch das Mischen von Alt und Neu entstand schließlich das heutige, homogene und etwas aufgehellte Fassadenkleid.
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Weniger Weiß
Mit den hellen Attika- und Sockelzonen verschwanden auch die filigranen, weißen Vertikalleisten, die nach jeder siebten Platte folgten. Dadurch muten die neuen Fassaden flächiger und der Baukörper insgesamt kubischer an. Die weitgehend unveränderten Fensteröffnungen liegen nun inmitten einer farbigen Fläche. Somit entspricht die Stadthalle bewusst nicht mehr dem Zeitgeist der 1960er-Jahre und erscheint auch ein ganzes Stück höher, obwohl durch die Dachdämmung an der Attika nur 50 cm, sprich eine Fliesenreihe hinzugekommen ist. Die weißen Fliesen sind keineswegs entsorgt worden: Sie tauchen heute an den additiven Elementen des Gebäudes auf, etwa an der Vordachkante über dem Haupteingang und als Fassadenbekleidung eines ostseitigen Anbaus, der die Anlieferung beherbergt.
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Vorgehängt statt angeklebt
Der neue Wandaufbau mit der VHF gestaltet sich wie folgt: Auf die Stahlbeton-Bestandswand wurde eine 19 cm starke Unterkonstruktion montiert, zwischen die 14 cm mineralische Dämmung eingebracht wurden. Vor einer Luftschicht von 5 cm sind die 3 cm starken Fliesen mittels Hinterschnittdübeln sowie Fest- und Gleitpunktagraffen aufgehängt. Jede der Keramikplatten wird von vier Dübeln gehalten – einer pro Ecke. Wo die Fassadenflächen an den Gebäudekanten aufeinandertreffen, bilden pulverbeschichtete Rechteckhohlprofile aus Aluminium den Abschluss. Auch die Fensterlaibungen bestehen aus pulverbeschichtetem Aluminium.
Bautafel
Architekten: soll sasse architekten BDA, Dortmund / SSP Architekten Ingenieure, Bochum
Projektbeteiligte: Inga Soll, Heiko Sasse, Maike Wiemann (Projektteam soll sasse architekten: Planung Fassaden und Anbauten, Leistungsphasen 2–5, künstlerische Oberleitung Leistungsphasen 6–8), Matthias Kraemer, Wolfgang Rösner, Lars Müller, Dora Dreister, Shirin Jorjani, Frank Gonzalez, Veronika Amendola, Thomas Weitemeyer-Janßen, Martin Kohlenberg, Heiner Blum, Frithjof Konrad, Hans-Dieter Hille, Andreas Bischoff, Philip Wieland (Projektteam SSP: Architektur Leistungsphasen 6–9, integrale Planung, Neugestaltung Innenräume, Foyer, Saal), Draheim Ingenieure, Hamm / Aachen (Tragwerksplanung, Instandhaltung von Betonbauteilen, Bauphysik, Wärmeplanung); m&r Manufaktur, Saarbrücken (Aufbereitung bestehender und Herstellung neuer Keramikplatten)
Bauherr: Stadt Göttingen, Eigenbetrieb Stadthalle
Fertigstellung: 2024
Standort: Albaniplatz 2, 37073 Göttingen
Bildnachweis: Lukas Roth, Köln (Fotos); soll sasse architekten, Dortmund, SSP Architekten Ingenieure, Bochum (Fotos und Pläne)
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