Kultureinrichtung Pinghe Bibliotheater in Shanghai
Kultur im Wal
Verwandte oder Gegenpole? Der Vergleich gilt zwei Orten der Hochkultur für aktive Rezipienten literarischer Inhalte – der Bibliothek und dem Theater. Das war es aber wohl auch schon mit den Gemeinsamkeiten, zumindest auf den ersten Blick: Hier Konzentration, dort Zerstreuung, hier der Intellekt, dort die Emotionen, hier das Individuum, dort das Kollektiv und vor allem: hier Stille, dort Schreie, Gesang und Orchester – dies alles lässt zweifeln, ob die beiden traditionsreichen Kultureinrichtungen mit ähnlichen Zielgruppen als direkte Nachbarn taugen. Frei von solchen Bedenken haben Open Architecture aus Peking beim Entwurf des Pinghe Bibliotheaters in Shanghai beide Funktionen unter einem Dach vereint.
Gallerie
Die Schule als Dorf
Der Neubau-Zwitter ist nicht irgendein städtisches Kulturexperiment, sondern Teil der Qingpu Pinghe International School – einer privaten, bilingualen Schule, gut 45 Minuten vom Stadtzentrum entfernt, die insgesamt deutlich vom Status Quo des Schulbaus in China abweicht. Üblich wäre es gewesen, das komplexe Raumprogramm für mehr als 2.000 Schülerinnen und Schüler zwischen drei und achtzehn Jahren in der Megastruktur eines einzigen Gebäudekomplexes zu konzentrieren. Stattdessen haben die Architekturschaffenden in ihrem Projekt „School as a Village“ die Funktionen auf dreizehn individuelle Gebäude verteilt und auf einem acht Fußballfelder großen Campus angeordnet.
Hier befinden sich eine amöbenförmige Kita im Westen, ein blockhaftes Verwaltungsgebäude am Haupteingang im Süden, ein als achtgeschossiger Doppelring ausgebildetes Internat und eine Turn- und Schwimmhalle mit Cafeteria im Norden, sieben fünfgeschossige sogenannte Learning Cubes für Grund- und Mittelschule im Osten, ein Sportplatz und ein Kunstzentrum in Form eines Granit-Prismas in der Mitte sowie schließlich das tiefblau gehaltene Bibliotheater mit separatem Zugang an der Nordostecke des Geländes, das im Winkel zweier mehrspuriger Straßen zur Landmarke des ganzen Schulcampus wird.
Schallisolierter Gebäudekern
Das Planungsteam hat Theater und Bibliothek an prominenter Stelle zusammengebracht aus der Überzeugung, dass vertieftes Lesen und Nachdenken wie auch der performative Ausdruck „wichtige, kritische Bildungskomponenten“ sind, die bei faktenorientierten Lernkonzepten schnell vergessen werden. Außerdem sollen beide Funktionen – wie auch die benachbarte Sport- und Schwimmhalle – von den Bewohnern der umliegenden Quartiere mitgenutzt werden. Aufgelöst wurde die Quadratur des Kreises zwischen tiefer Stille und tosendem Beifall über eine Konzentration der schallisolierten Theaterräume im inneren und unteren Bereich, um den sich die Bibliothek entwickelt. In dem Gebäude mit Dreiecksgrundriss, weit abgerundeten Kanten und nach Südwesten ansteigendem Dach sind ein größeres Theater mit Bühnenturm und Zuschauerraum für 500 Personen und ein kleineres Blackbox-Theater mit 150 Plätzen gegeneinandergestellt.
Theatereingang und Garderobe sind im Westen unter den aufsteigenden Zuschauerreihen, Foyer, Café und Shop sind im Süden und Osten angedockt, die Nebenräume im Norden. Über dem großen Theater befindet sich der zentrale Lesebereich der Bibliothek mit einem weiten, kreisrunden Oberlicht, auf das der ganze Raum ausgerichtet ist. Das Dach des Blackbox-Theaters wird zum geschützten, begrünten Innenhof, um den sich weitere Bibliotheksbereiche wie Verbuchung, Zeitschriftenbereich und Medienraum gruppieren. Über dem Foyer befindet sich zudem ein abgetreppter Lesebereich. Punktuell wird innen die blaue Farbe der Außenhaut aufgegriffen, etwa bei der Theaterbestuhlung. Insgesamt sind aber Theater- wie Bibliotheksräume von hellen Holzoberflächen geprägt.
Fassade: Tiefblauer Putz mit Bullaugen
Die Hülle des
von einer Stahlkonstruktion getragenen Gebäudes besteht aus einer
vorgehängten hinterlüfteten und tiefblauen Putzfassade.
Aufgebrochen ist diese fast nur durch meist paarweise oder zu
Dreiergruppen angeordnete Bullaugenfenster und horizontale sowie
schräge Fensterbänder mit abgerundeten Schmalseiten, die
durch das Ausschneiden des Zwischenraums zwischen zwei
Bullaugenfenstern gestreckte Stadionformen ergeben. Insgesamt
wirken die Fenster zufällig über die blauen Fassadenflächen
verteilt, folgen aber in ihrer lockeren Anordnung weitgehend der
Dachneigung. Auch über das Dach sind mehr als 40 kleinere, runde
Oberlichter verteilt.
Ebenso wie die Fassaden samt Fensterlaibungen ist auch die
Dachfläche einschließlich aller Abdichtungen im einheitlichen
Blauton gefärbt. Mit der dreieckigen Glasöffnung des
Theatereingangs weckt der Bau Assoziationen an einen auftauchenden
Wal, der sein Maul aufreißt. Das schräge Dach und die abgerundeten
Kanten erinnern an einen Schiffsbug. Großflächig verglast sind auf
der Erdgeschossebene der Haupteingang und das Café im Süden sowie
ein kleiner öffentlicher Supermarkt im Westen.
Bautafel
Architektur: Open Architecture, Peking
Projektbeteiligte: Li Hu, Huang Wenjing (verantwortliche Büroleiter); Ye Qing, Shi Bingjie, Yang Ling, Tan Qingjun, Lu Di, Daijiro Nakayama, Lin Bihong, Chen Xiuyuan, Zhou Tingting, Zou Xiaowei, Liu Xunfeng, Li Lingna (Designteam Architekten), Shanghai Yuangou Architects and Consultants (lokales Projekt-Partnerbüro), CABR Technology, Peking (Tragstruktur, Vorhangfassade, TGA); Shanghai Net Culture Development, Shanghai (Akustik); Shanghai Modern Architecture Decoration Environmental Design Research Institute, Shanghai (Lichtplanung)
Bauherrschaft: Shanghai Tixue Education and Technology
Fertigstellung: 2020
Standort: 261 Huang Yang Lu, Pudong Xinqu, Shanghai Shi, China
Bildnachweis: Jonathan Leijonhufvud, Peking/ Hongkong; Wu Qingshan, Shanghai; Chen Hao, Shanghai
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