Studentenwohnheim The Street bei Mathura
Keilförmige Fenstererker mit Nordausrichtung
Die Straßen im Zentrum von Mathura, einer Großstadt im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, sind im Laufe der Geschichte organisch gewachsen und verlaufen darum fast niemals gerade, sondern stets abgeknickt und in zahlreichen Biegungen. Erst auf den zweiten Blick, genauer gesagt aus der Vogelperspektive, erschließt sich, dass genau diese Straßenverläufe Sanjay Puri Architects als Inspiration für das Studentenwohnheim The Street dienten, das sie auf dem Campus der GLA University in Bharthia, einem Dorf gut 20 Kilometer nördlich von Mathura, planten. Es bietet Platz für 800 Studierende und fällt auch ohne das Wissen um die Vorgeschichte ins Auge. Charakteristische Fenstererker mit Origami-Anmutung, der partielle Einsatz kräftiger Farben und die großzügigen Außenanlagen sorgen dafür, dass sich der Wohnkomplex deutlich vom Rest des Universitätscampus unterscheidet. Nicht sichtbar, aber ebenfalls außergewöhnlich, ist das auf einer Keilform beruhende Sonnenschutz- und Klimakonzept.
Gallerie
Der viergeschossige Komplex setzt sich aus fünf Gebäudetrakten
mit einer Geschossfläche von insgesamt 64.300 Quadratmetern
zusammen. Vier Wohntrakte „schlängeln“ sich, einer leichten
Zickzacklinie folgend, entlang der nach Süden zulaufenden Grenzen
des dreieckigen Grundstücks und umschließen den fünften Trakt im
Inneren der Anlage auf zwei Seiten. Zwei Baukörpern ist ein
Kantinenanbau angeschlossen; alle sind von miteinander verbundenden
Grünflächen und Gärten umgegeben. In seiner Gesamtheit ist dem
Grundriss das Entwurfsmotiv der historischen Straßenverläufe klar
anzusehen.
Blickfang des Wohnheims sind die den Fassaden aufsitzenden Erker vor jedem Studentenzimmer. Die Fenster darin sind jeweils ein Stück zurückgesetzt; alle weisen nach Norden. Von den Architekten als Baywindows bezeichnet, ist ihr Grundriss wie die Grundstücksform, dreieckig. Die Planer entwickelten die Keilform aus dem Ausschneiden und Aufklappen einer quadratischen Fassadenfläche um 45 Grad. Zusätzlich sind die Erker im Wechsel jeweils oben oder unten ausgestellt. Die ausgeklappte Wandfläche wird so von der quadratischen in die Form eines unregelmäßigen Vierecks gestreckt. Dadurch gewinnt die Fassade an Komplexität und erzeugt im täglichen Sonnenverlauf die verschiedensten Schattenwürfe. Die individuelle Prägung jedes Fassadenabschnitts wird noch verstärkt durch den Zickzackverlauf der Gebäudetrakte sowie die in den Primärfarben Rot, Blau oder Gelb gestrichenen Erkerinnenseiten. Ihre Leuchtkraft resultiert nicht zuletzt aus dem Kontrast zu den beige und grau gestalteten Außenwänden.
An den Fassaden der Kantinenbauten tauchen die kräftigen Farben wieder auf. Mit Deckenhöhen von bis zu sieben Metern und geneigten Dächern unterscheiden sie sich zwar von den Wohntrakten, haben mit ihnen aber den Gestus der Geschlossenheit nach Süden und die Öffnung nach Norden gemein. Große Fensterfronten lassen auf der sonnenabgewandten Seite viel Tageslicht in die Speisesäle fallen. Ihre Grundrisse zeichnen die Keilform des Grundstücks grob und im Kleinen nach.
Neben der außergewöhnlichen Architektur hat das Projekt auch
eine soziale Komponente. Durch den Verzicht komplizierter
Ausführungsdetails wurde sichergestellt, dass anstelle von
spezialisierten Arbeitskräften nur Bauarbeiter aus den umliegenden
Dörfern beschäftigt wurden. Bei der Wahl der Baumaterialien und
ihrer Verarbeitung wurde auf lokale Herkunft und traditionelle
Arbeitstechniken geachtet. Die verwendeten Ziegel beispielsweise
werden nur in dieser Region hergestellt, die Art ihrer Vermauerung
ist ebenfalls nur dort üblich.
Sonnenschutz und Klimakonzept
Das Klima im
nördlichen Zentralindien ist die meiste Zeit des Jahres
heißtrocken. Acht Monate lang fallen die Temperaturen kaum unter 35
Grad Celsius. Ein energieeffizientes Klimakonzept bestehend aus den
Komponenten Sonnenschutz, natürlicher Luftzirkulation und
Solarstrom sorgt im Studentenwohnheim für ein angenehmes Raumklima.
Der heiße Sommerwind aus südöstlicher Richtung wird durch die
keilförmige Bebauung vom Grundstück und damit den Grün- und
Gemeinschaftsflächen fortgelenkt. Dem kühleren Wind aus Nordwest im
Winter hingegen öffnet sich die Anlage. So entsteht ein Mikroklima
mit höherer Aufenthaltsqualität als anderswo auf dem Campus.
Die Erker vereinen architektonischen Sonnenschutz und permanente
indirekte Tagesbelichtung in sich. Sie sind das Resultat des streng
eingehaltenen Entwurfsprinzips, das kein Fenster mit Südausrichtung
erlaubte. Neben dem Schutz vor direkter Sonneneinstrahlung verhindert ihre Keilform
Einblicke in die Wohnräume der Studierenden.
Ein letztes Mal taucht der Keil als formgebendes Element bei den
Erschließungszonen in den Wohntrakten auf. Bedingt durch den
Zickzackverlauf ergaben sich an den Knickstellen Leerräume mit
dreieckigen Grundrissen, in die die Treppenaufgänge eingestellt
wurden. Weitere Treppenhäuser befinden sich an den Längsseiten der
Gebäuderiegel. Sie erschließen die mittigen Flure, von denen
beidseitig die Zimmer abgehen. Lüftungsöffnungen in den
flurseitigen Trennwänden sorgen für eine stete Luftzirkulation,
weil die Außenwände der Treppenhäuser auf ganzer Höhe als
perforiertes Sichtmauerwerk ausgeführt wurden. In Indien ist dies
eine weit verbreitete Technik, um Räume und Häuser natürlich zu
belüften. Die durchbrochenen Bauteile werden Jalis genannt und
gehen auf das zweite Jahrhundert v. Chr. zurück. Sie sind eng mit
den der islamischen Baukunst entstammenden Maschrabiyya verwandt und wurden wie diese früher
aus Holz oder Natursteinen hergestellt. Die beim Studentenwohnheim
verwendete Form der Jali zitiert in ihrer Strenge einerseits die
ältesten Beispiele ihrer Art, andererseits schafft sie Bezüge zur
Moderne: Unter anderen entdeckte Le Corbusier das traditionsreiche
Mauerwerk, das Sicht- und Sonnenschutz ist und gleichzeitig für
eine stetige Zufuhr von Frischluft sorgt. Er überführte es in
Betongitterstrukturen und verwendete diese an einigen seiner
Bauwerke für Chandigarh. Im Studentenwohnheim The Street
funktioniert es so gut, dass auf eine ursprünglich geplante
Klimaanlage verzichtet werden konnte. -sr
Bautafel
Architekten: Sanjay Puri Architects, Mumbai; Team: Sanjay Puri, Ishveen Bhasin, Ankush Malde
Projektbeteiligte: Padaria Consultants, Gujarat (Tragwerksplanung); Epsilon Design Consultancy, Mumbai (Bautechnische Beratung); Sanjay Puri Architects, Mumbai (Landschaftsarchitektur); Tata Steel, Mumbai (Stahl); Akzo Nobel, Amsterdam (Fassadenfarben Beige und Grau); Asian Paints, Mumbai (Fassadenfarben Rot, Blau, Gelb sowie Innenraumfarben); Kohler, Pune (Sanitärausstattung)
Bauherr: GLA University, Mathura
Fertigstellung: 2017
Standort: G Block Road, Bharthia, Mathura, Uttar Pradesh 281406, Indien
Bildnachweis: Dinesh Mehta, Mumbai
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