Observatorium auf dem Uhrturm der TU Darmstadt
Structural-Glazing Ganzglaskonstruktion mit anspruchsvollem Glasaufbau
Der Uhrturm der Technischen Universität Darmstadt wurde 1904 als
Neubau zwischen den angrenzenden Institutsgebäuden nach einem
Entwurf von Friedrich Pützer realisiert. In seiner ursprünglichen
Form beherbergte er in der Turmhaube eine Sendestation für
Nachrichtentechnik, bis er und die Dächer der Nachbargebäude in der
Darmstädter Brandnacht am 11. September 1944 zerstört worden waren.
In den 50er-Jahren wurden die Überreste rückgebaut; der Turm
erhielt eine Notbedachung, die Dächer der angrenzenden Gebäude
ersetzte man durch einfache Mezzaningeschosse, die flacher und
schlichter als die Originalbauten erschienen.
Gallerie
Da der Turmstumpf bis zum letzten Jahr noch immer das Notdach
trug, wurde das Architekturbüro Sichau & Walter im Rahmen einer
geplanten Revitalisierung beauftragt, einen neuen Abschluss für den
Turm zu entwerfen. Das Ergebnis ist eine Ganzglaskonstruktion aus
vier großformatigen und rahmenlosen Verglasungen aus Verbundsicherheitsglas, die das schlichte
Erscheinungsbild des Gebäudekomplexes und die architektonische
Entwicklung der Nachkriegszeit fortsetzt.
Die nach oben hin offene Konstruktion ist durch ein hohes Maß an
Transluzenz geprägt und wird nachts beleuchtet. Die Bauweise
ermöglicht, dass die neue Turmhaube als neues Observatorium des
Fachbereichs Physik genutzt werden kann. Da die Plattform des
Uhrturmgebäudes für Mitarbeiter und Studierende der Universität
zugänglich ist, wurde die Konstruktion absturzsichernd
ausgebildet.
Anspruchsvoller Glasaufbau
Die realisierte Ganzglaskonstruktion besteht aus insgesamt vier
großformatigen Glasscheiben mit Maßen von ca. 5,4 x 3,0 Metern, die
als rahmenlose Verglasung aus Verbundsicherheitsglas mit
außenseitig angeordneter Kunstglasschicht besteht. Der tragende
Teil der Verglasung besteht aus Verbundsicherheitsglas aus 3 x 12
mm heißgelagertem Einscheibensicherheitsglas (ESG-H) mit einer
SGP-Folie als Zwischenschicht.
Auf diese Tragschicht wurde die künstlerisch gestaltete
Dekorscheibe mit EVA- Zwischenschicht auflaminiert. Bei dieser
speziellen Glasschicht handelt es sich um grau durchgefärbte
Floatglasscheiben aus Weißglas mit einer Nenndicke von
12 mm, die durch einen speziellen thermischen Prozess bei über 750
°C – deutlich oberhalb der Glasübergangstemperatur von
Kalknatron-Silikatglas – auf einer strukturierten Gipsbettunterlage
geschmolzen und zur Vermeidung von Eigenspannungen kontrolliert
abgekühlt wurden. Die Kunstglasscheiben wurden anschließend in
einem separaten Prozess thermisch auf das Niveau von
Einscheibensicherheitsglas vorgespannt. Die unregelmäßig
strukturierte Gipsbettunterlage verleiht der außenliegenden
Glasoberfläche durch verschieden große, unregelmäßige Erhebungen
und Vertiefungen eine lebendige Textur.
Obwohl die zum Verbundsicherheitsglas orientierte Glasoberfläche
nicht strukturiert ist, weist diese durch den thermischen
Bearbeitungsprozess nicht mehr die Planitätseigenschaften des
Basisglases auf. Zur Kompensation dieser lokalen Verwerfungen,
welche durchaus Größenordnungen von bis zu 7 mm aufgewiesen haben,
wurde der Verbund zwischen Tragschicht und Kunstglasscheibe mit
einer Zwischenschichtdicke von 9,60 mm ausgeführt.
Tragprinzip
Bedingt durch den architektonischen Leitgedanken einer maximal
transluzenten Ganzglaskonstruktion wurde die Ausbildung der
Lagerungsbestandteile auf ein Minimum begrenzt. Entlang der unteren
horizontalen Glaskanten sind die Verglasungen gegenüber
horizontaler Beanspruchung – wie Wind- oder horizontaler Nutzlast –
linienförmig gelenkig gelagert. Der Lastabtrag des
Scheibeneigengewichtes von jeweils über 2.000 kg erfolgt statisch
bestimmt über seitliche Klotzungen im Bereich der
Linienlagerung.
Im Bereich der vertikalen Ecken der Ganzglaskonstruktion sind die Glaskanten auf Gehrung ausgebildet und statisch wirksam über eine Structural Glazing Verklebung (SGG) miteinander verklebt. Der planmäßige Lastabtrag von horizontalen Beanspruchungen erfolgt somit als dreiseitig gelenkig gelagerte Platte. Über die seitlichen SG-Verklebungen werden die Lasten in die Scheibenebene der Nachbarverglasung eingeleitet. Diese Reaktionskräfte werden planmäßig sowohl über die SG-Verklebung im U-Profil als auch über die Glasklotzungen in den Bestand eingeleitet.
Als mechanische Nothalter werden entlang der oberen Glaskante
Haltewinkel aus Edelstahl montiert, die bei Versagen der
SG-Verklebung den Lastabtrag von horizontalen Nutzlasten sowie die
globale Standsicherheit der Konstruktion weiter
gewährleisten.
Baurechtliche Situation und Zustimmung im Einzelfall
Die realisierte Ganzglaskonstruktion weicht in vielerlei Hinsicht
von den Technischen Baubestimmungen ab, sodass die Erwirkung einer
vorhabenbezogenen Bauartgenehmigung (vBG) über die oberste
Bauaufsichtsbehörde erforderlich war. Im Rahmen einer diesbezüglich
erforderlichen sachverständigen Begutachtung konnte die
Anwendbarkeit der Ganzglaskonstruktion im Speziellen auf Grundlage
von experimentellen Nachweisen im Kleinteil- sowie auch reduziertem
Bauteilformat empfohlen werden. Besonderes Augenmerk lag neben der
Bewertung der Absturzsicherheit und der SG-Verklebung auf den
Festigkeitseigenschaften der Kunstglasscheibe und den damit
verbundenen Verbundeigenschaften über die stark erhöhte
Zwischenschichtdicke.
Bautafel
Architektur: Sichau & Walter Architekten, Fulda
Projektbeteiligte: Glasmalerei Peters, Paderborn (Produktion und Montage, Formgebung Strukturglas); Thiele Glas Werk, Wermsdorf (Glasveredelung: Vorspannen, Laminieren); B + G Ingenieure Bollinger und Grohmann, Frankfurt am Main (Tragwerksplanung und Fachplanung); Staatliche Materialprüfungsanstalt Darmstadt, Darmstadt (Materialprüfung); SGS - Schütz Goldschmidt Schneider Ingenieurdienstleistungen im Bauwesen, Heusenstamm (Sachverständige Begutachtung und Beratung im Rahmen der ZiE)
Bauherr: Technische Universität Darmstadt
Fertigstellung: 2021
Standort: Hochschulstraße 4, 64289 Darmstadt
Bildnachweis: Glasmalerei Peters, Paderborn; Dr.-Ing. Sebastian Schula, Darmstadt
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