Bemessung von Structural-Glazing-Fassaden
Durch den architektonischen Wunsch nach glatten, ungestörten
Fassadenansichten steigt seit den 1980er-Jahren weltweit der Trend
zu geklebten Ganzglasfassaden. Bei den als
Structural-Glazing-Fassaden (auch
Structural-Sealant-Glazing-Systems oder kurz SSGS bzw. SG)
bezeichneten Fassaden ist die Tragstruktur von außen nicht
sichtbar. Die Verklebung übernimmt eine planmäßig tragende
Funktion. Prinzipiell sind dafür Klebstoffe geeignet, für die eine
ausreichende Dauerhaftigkeit und Tragfähigkeit nachgewiesen werden
kann – praktisch trifft dies bisher nur auf Silikone zu.
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Für SSG-Systeme ist eine Europäische Technische Zulassung
(ETA) erforderlich, die beim Deutschen Institut für Bautechnik
(DIBt) entsprechend der Musterliste der Technischen
Baubestimmungen beantragt werden kann. Die Bemessung ist
je Verklebungssystem bzw. Bauart zusätzlich im Rahmen einer
allgemeinen Bauartgenehmigung (abG) zu regeln. Konstruktionen,
welche nicht systemseitig geregelt sind, bedürfen einer
objektspezifischen Zustimmung im Einzelfall (ZiE) bzw. einer
vorhabenbezogenen Bauartgenehmigung (vBG).
Fugendimensionierung und Bemessungsspannungen
Die angestrebte Nutzungsdauer beträgt 25 Jahre. Das maßgebliche Regelwerk für SSG-Fassaden ist die Leitlinie für die europäische technische Zulassung für geklebte Glaskonstruktionen (ETAG 002-1). Hierin werden unter anderem Anforderungen an die Konstruktion, die mechanischen Befestigungsmittel und an den Klebstoff bezüglich Tragfähigkeit, Dauerhaftigkeit und Verträglichkeit gestellt.
Der statische Nachweis der SG-Verklebung erfolgt nach ETAG 002-1 anhand eines stark vereinfachten Ansatzes (Spannung im Klebstoff = einwirkende Kraft / Verklebefläche) mittels des veralteten globalen Sicherheitskonzepts; für die Einwirkungen sind demnach charakteristische Werte ohne Teilsicherheitsbeiwert zu verwenden. Dabei ist die Abmessung der Verklebung getrennt auf Grundlage der zu erwartenden Wind- und Temperaturbeanspruchung zu dimensionieren. Im Rahmen jüngster Forschungsarbeiten wurden darüber hinaus konstruktionsgerechte, geeignete nicht lineare Berechnungsverfahren und Materialgesetze zum numerischen Nachweis von SG-Verklebungen entwickelt.
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Die in der ETAG 002 geregelten Fügeteilpartner sind Glas und
eloxiertes Aluminium oder Edelstahl. Die lineare Klebefuge aus
Silikon
hat einen rechteckigen Querschnitt mit einer Breite zwischen 6 und
20 mm und einer Mindesthöhe von 4 mm. Üblich sind
Querschnittsabmessungen von 12 mm x 6 mm. Das
Dicken-/Breitenverhältnis darf das Verhältnis 1:3 nicht
unterschreiten bzw. 1:1 nicht überschreiten.
Für zugelassene Silikone wie beispielsweise „Dowsil 993“ (ETA
01/0005) und „Sikasil SG-500“ (ETA 03/0038) sind in deren ETA
Bemessungsspannungen zur Dimensionierung der Klebefuge angegeben.
Es ergeben sich die folgenden Bemessungsspannungen senkrecht und
parallel zur Klebefuge:
- Zugbeanspruchung von tragenden Silikonverklebungen: zul σ = 0,14 N/mm²
- Schubbeanspruchung von tragenden Silikonverklebungen: zul τ = 0,07 N/mm²
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SG-Systeme nur mit mechanischem Eigengewichtsabtrag zulässig
Grundsätzlich werden Fassadenkonstruktionen nach ETAG 002 in vier Typen unterteilt, wobei in Deutschland bisher nur Systeme mit mechanischem Eigengewichtsabtrag zugelassen sind (Typ I und Typ II) – eine planmäßige Dauerbeanspruchung der Klebefuge (Typ III und Typ IV) ist nicht zulässig. Mittlerweile besteht die sogenannte „8 Meter Regel“ nicht mehr, sodass bei entsprechender bauaufsichtlicher Regelung das SG-System oberhalb 8 Metern Einbauhöhe nicht mehr mechanisch über Nothalter gesichert werden muss.
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Änderung durch Neufassung der MVV TB
Bislang war entsprechend der Musterliste der Technischen
Baubestimmungen des DIBt bzw. daran anschließend der
Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmung (MVV TB)
geregelt, dass die Bemessung von Klebefugen nach ETAG 002 Teil 1
mit einem globalen Sicherheitsfaktor von γtot=6
durchzuführen ist.
Mit Neufassung der MVV TB (Stand: 7. August 2020) wurde diese Regelung nicht aufrechterhalten, sodass "in Ermangelung einer allgemein anerkannten Regel der Technik für die Planung, Bemessung und Ausführung von geklebten Glaskonstruktionen unter Verwendung von Bauprodukten mit einer ETA nach ETAG 002 oder EAD 090035-00-0404 [...] ein Nachweis gemäß § 16a MBO erforderlich" ist. Dementsprechend muss für die Anwendung eines SG-verklebten Systems eine allgemeine Bauartgenehmigung durch das Deutsche Institut für Bautechnik oder eine vorhabenbezogene Bauartgenehmigung durch die zuständige oberste Bauaufsichtsbehörde vorliegen.
Eine Europäische Technische Bewertungen (ETA) reicht in diesem
Zusammenhang nicht aus, da durch diese nur Leistungswerte eines
Produktes beschrieben werden, die Anwendung aber nicht geregelt
wird. Bauaufsichtliche Verwendbarkeitsnachweise können auch für
anderweitig nicht geregelte Bauprodukte erforderlich sein, mit
denen die geklebten Glasscheiben an der Unterkonstruktion befestigt
werden. Das Zusammenfügen der Bauprodukte (Bauart) wird über eine
Bauartgenehmigung bzw. über Angaben in den
Landesverwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen (VV TB)
geregelt, vgl. hierzu insbesondere MVV TB, Abschnitt
A 1.2.7.
Technische Regeln zur Anwendbarkeit von SG-Verklebungen sind
derzeit:
- ETAG 002/1: Guideline for European Technical Approval for Structural Sealant Glazing Kits (SSGK) Part 1: Supported and Unsupported Systems (Ausgabe: Mai 2012)
- ETAG 002/2: Leitlinie für die europäische technische Zulassung für geklebte Glaskonstruktionen Teil 2: Beschichtete Aluminium-Systems (Ausgabe: Januar 2002)
- ETAG 002/3: Leitlinie für die europäische technische Zulassung für geklebte Glaskonstruktionen Teil 3: Systeme mit thermisch getrennten Profilen (Ausgabe: März 2002)
- EAD 220062-00-0401: Rooflight with bonded or mechanically fastened cover glass (Stand: Juni 2017)
- EAD 090035-00-0404: Insulated glass unit with structural sealant punctually anchored (Stand: April 2017)
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