Bibliothèque Alexis de Tocqueville in Caen
Thermisch verformte Isolierverglasungen
Dass sich die Leser im Freihandmagazin einer Bibliothek heute selbst mit Büchern versorgen können, ist nicht zuletzt dem Office for Metropolitan Architecture zu verdanken, das mit seinem Entwurf für die 2004 eröffnete Zentralbibliothek in Seattle den veränderten Lese- und Nutzungsgewohnheiten Rechnung trug und eine ganz neue Form dieser Gebäudetypologie schuf. Nun wurde im französischen Caen eine weitere Bibliothek nach Plänen der Rotterdamer Architekten fertig gestellt. Auch sie ist kein Elfenbeinturm für Gelehrte, auch sie ist ein öffentlich zugänglicher Ort mit geringer Hemmschwelle für die Besucher.
Gallerie
Im Vergleich zu seinem amerikanischen Vorgänger ist die Bibliothèque Alexis de Tocqueville recht zurückhaltend gestaltet. Ihre Form und Ausrichtung folgen den städtebaulichen Gegebenheiten am Quai François Mitterrand an der Spitze der Halbinsel von Caen. Im Grundriss ein X formend, zeigen ihre vier ausgreifenden Flügel auf jeweils eine Landmarke der Stadt: Im Norden ist es das Kloster Abbaye-aux-Dames, im Westen das Kloster Abbaye-des-Hommes. In Richtung Süden weist ein Riegel auf den Hauptbahnhof, in Richtung Osten ein anderer auf das Neubauviertel, das derzeit auf einem ehemaligen Industrieareal entsteht. Insgesamt 12.000 Quadratmeter Nutzfläche bietet der dreigeschossige Bibliotheksbau.
Den Architekten war es wichtig, dass der Raum in der Mitte der Kreuzkonfiguration frei bleibt. Und so versperren weder Stützen noch Innenwände den Blick auf die vier Flügel. Vom Boden bis zur Decke reichende Verglasungen bringen viel Tageslicht in die Raumfluchten und stellen gleichzeitig eine optische Verbindung mit dem Außenraum her. Zwei Eingänge sorgen für eine enge Anbindung ans nahe Wasser und einen neuen Park. Herz des Gebäudes ist der große Lesesaal im ersten Obergeschoss. Er wird über eine zentrale, mit Spiegeln verkleidete Rolltreppe erschlossen und ist mit mobilen Bücherregalen ausgestattet, zwischen denen sich locker Arbeitstische und Ruheinseln verteilen; an den Flügelenden schließen Büros und Arbeitsräume an.
Lebhafter geht es im ebenfalls offen konzipierten Erdgeschoss zu. Hier befinden sich neben Ausstellungs- und Seminarräumen, ein Restaurant samt Café, ein Auditorium und ein Zeitungskiosk. Im zweiten Obergeschoss ist jeder der vier Schenkel des X einer anderen Fachrichtung zugeordnet: Naturwissenschaften, Literatur, Kunst und Geisteswissenschaften. Das Magazin, in dem ein Großteil der über 120.000 digitalen und physischen Medien lagert, ist im Untergeschoss untergebracht.
Glas
Eine teils transparent, teils opak ausgebildete Isolierglasfassade
umschließt alle vier Flügel des dreistöckigen Gebäudes. Die
einzelnen Scheiben werden von hervorstehenden Pfostenprofilen
gehalten, die als durchgehende vertikale Linien die Fassaden
gliedern. Davon ausgenommen ist der Kreuzungsbereich im mittleren
Geschoss. Hier lagern die 1,20 Meter breiten und 6,00 Meter hohen
Verglasungen ausschließlich auf Böden und Decken; die vertikalen
Fugen sind lediglich mit einer Wetterdichtung geschlossen.
Das Besondere an den großformatigen Verglasungen sind jedoch ihre muldenförmigen Wölbungen im Scheibenzentrum. Dass sie an die Fassadengläser der kürzlich eröffneten Elbphilharmonie erinnern, kommt nicht von ungefähr, denn tatsächlich wurden sie vom selben Glasveredler im Schwerkraftbiegeverfahren thermisch verformt. Bei diesem Verfahren werden zunächst Biegeformen in der gewünschten Glasgeometrie angefertigt und mit feuerfesten Materialien ausgekleidet. Auf diese Form wird dann die ebene Glasscheibe gelegt und langsam erwärmt. Durch die Schwerkraft und das Eigengewicht „fällt“ die Scheibe in die Form hinein. Der anschließende Abkühlprozess muss kontrolliert langsam erfolgen, damit keine unplanmäßigen Eigenspannungen in dem thermisch entspannten Floatglas verbleiben.
Ein positiver Effekt der gebogenen Geometrie ist, dass sie eine
höhere geometrische Steifigkeit des Glases zur Folge hat. Bei der
großen (einachsigen) Spannweite von 6,00 Metern in der Bibliothek
sorgt das für eine verbesserte Stabilität bei
Windbeanspruchung.
Bautafel
Architekten: OMA – Office for Metropolitan Architecture, Rotterdam in Zusammenarbeit mit Barcode Architects – Buro For Architecture and Contemporary Design, Rotterdam und Clement Blanchet Architecture, Paris
Projektbeteiligte: VS-A Group, Lille (Fassade, Glaselemente); Sunglass, Villafranca Padovana (Glasveredelung); Iosis Conseil, Montreuil; Egis Batiments, Paris (Ingenieurdienstleistungen); Egis Concept, Montreuil (Nachhaltigkeit und Fassadenfachplanung); Royal Haskoning DHV, Amersfoort (Akustik)
Bauherr: Communauté d’agglomération Caen La Mer
Fertigstellung: 2016
Standort: 14053, 15 Quai François Mitterand, 14000 Caen, Frankreich
Bildnachweis: Delfino Sisto Legnani and Marco Cappelletti Courtesy of OMA, Philippe Ruault, Courtesy of OMA
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