Umbau und Aufstockung: Wohn- und Bürohaus Neckarhof in Berlin-Neukölln
Ressourcenschonend gedämmt und klimatisiert
Kaum ein Bezirk in Berlin verändert sich so rasant wie Neukölln. Immer wieder protestieren Anwohnerinnen und Anwohner gegen steigende Mieten und Verdrängung und gegen den Rassismus, der viele Medienberichte und Entscheidungen über das Viertel prägt. Auch auf dem Vollgut-Areal, bis 2005 Teil des Stammsitzes der Berliner-Kindl-Brauerei, tut sich Einiges. Zu dem weiträumigen Komplex gehört unter anderem das Neckarhofgebäude, das vom Architekturbüro Hütten & Paläste mit ressourcenschonenden Eingriffen zu einem passiv klimatisierten Wohn- und Bürohaus um- und ausgebaut wurde.
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Von Immobilieninvestoren als „Trendbezirk“ angepriesen ist Neukölln Schauplatz von reger Bautätigkeit und Eigentümerwechseln, die für viele der dort Lebenden steigende Mieten für Wohnungen und Gewerbeflächen und in der Folge Verdrängung bedeuten. Solchen Entwicklungen entgegenzuwirken ist kein leichtes Unterfangen. Die aus der Schweiz stammende Stiftung Edith Maryon versucht seit einigen Jahren, Grundstücke und Immobilien der Spekulation zu entziehen und sie zum Beispiel Gewerbebetrieben, sozialen Einrichtungen und Kreativen zur Verfügung zu stellen, die auf günstige Mieten angewiesen sind. Mit ExRotaprint, dem ehemaligen Produktionsgelände der Druckmaschinenfabrik Rotaprint im Berliner Stadtteil Wedding, war ein solches Projekt der Stiftung bereits erfolgreich. 2015 erwarb sie über ihre Tochtergesellschaft Terra Libra Immobilien auch das Vollgut-Areal in Neukölln. Ziel ist es, das Gelände über Erbbaurechtsverträge langfristig sozialen, kreativen und ökologischen Nutzungen zur Verfügung zu stellen. Seit einigen Jahren werden in diesem Sinne die Bestandsbauten transformiert und erweitert und damit bisherige, sogenannte Zwischennutzungen durch langfristige abgelöst.
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Lückenschluss zwischen Wohnen und Arbeiten
Den Westzipfel des Areals bildet das Neckarhofgebäude, das vormals ebenfalls der Berliner-Kindl-Brauerei gehörte und Duschen, Umkleiden und Sozialräume für die 280 Beschäftigten beherbergte. Es befindet sich in einer Lücke zwischen einem Wohnhaus aus dem Jahr 1936, das ebenfalls einmal zur Brauerei gehörte und von Betriebsangehörigen und ihren Familien bewohnt wurde, und einer ehemaligen Lagerhalle, in der heute eine Kartbahn untergebracht ist. In den kommenden Jahren soll sie ebenfalls transformiert werden, damit in dem Komplex die Interkulturelle Waldorfschule Berlin sowie weitere Gewerbe-, Kultur- und Kreativnutzungen einziehen können. Bereits fast vollständig verkauft sind die von einem Investor sanierten Wohnungen des Nachbarhauses, von denen neun die Terra Libra Immobilien erwarb. Im Neckarhofgebäude befindet sich nun ihr neuer Stammsitz.
Minimale feste Elemente für maximale
Nutzungsflexibilität
Ursprünglich verfügte das Gebäude über
fünf Geschosse, darunter ein Tief- und ein Hochparterre. Von der
Neckarstraße aus sichtbar ist die rot verputzte Aufstockung um ein
sechstes, in Holz und Lehm errichtetes Geschoss (das vierte
Obergeschoss) über der rohen Klinkerfassade. Damit schließt das
Gebäude heute an die Traufkante der benachbarten Halle an. Auf der
Westseite befindet sich ein neuer, zweiter Eingang zum Treppenhaus,
das bisher nur vom hinter dem Gebäude liegenden Hof aus zugänglich
war. Eine anderthalb Geschosse hohe Durchfahrt auf der Ostseite
schafft die Verbindung zwischen Straße und Hof.
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Ziel der Architekturschaffenden war, das Gebäudeinnere so umzugestalten, dass es möglichst offen und anpassungsfähig für zukünftige Änderungen von Nutzungen und Lebensentwürfen ist. Dazu mussten zunächst die vorhandenen Grundrisse bereinigt werden und die Geschosse von sämtlichen Innenwänden befreit, die im Laufe der Zeit eingebaut worden waren. Die verbliebene tragende Wandscheibe im Innenraum wurde jeweils durch eine T-Stütze ersetzt. Ankerpunkt der neuen Grundrisse ist eine Raumeinheit mit Sanitär- und Kochbereich sowie Lagerfläche und Garderobe. Sie ist zum Treppenhaus hin angeordnet, sodass sich leicht Räume ausbilden lassen, die als Küche oder Essbereich eingerichtet werden können. Im Zusammenspiel mit der T-Stütze werden die Grundrisse auf diese Weise neu organisiert. Zur weiteren Unterteilung der freigeräumten Geschossflächen dienen versetzbare oder sortenrein rückbaubare Holzwände und eingestellte Möbel mit Schiebetüren. Mit ihnen ist eine Vielzahl von Grundrissvarianten für Büro-, über Atelier- bis zu Wohnnutzungen möglich.
Gezielter Einsatz von Dämmstoffen und passiver
Gebäudeklimatisierung
Das Architekturbüro erkannte das
Potenzial der Nord-Süd-Ausrichtung der Fassaden, um solare Einträge
ohne technischen Aufwand zu sammeln, in massiven Bauteilen zu
speichern und verzögert wieder abzugeben. Vor die südliche, zum Hof
hin gelegene Fassade wurde eine tiefe Balkonanlage gestellt, die
als begehbarer Sonnenschutz dient. Im Sommer verschattet er die
Fassade und bewahrt sie davor, sich stark aufzuheizen. In den
Übergangszeiten können die Strahlen der tiefer stehenden Sonne
hingegen tief in die mit vielen durchlässigen Wänden gegliederten
Geschosse dringen und die Räume mit Wärme und Tageslicht versorgen
– die Architekturschaffenden sprechen von einer
Energiefalle.
Die Aufstockung wurde als Holzständerbau nach EnEV errichtet, der mit Holzfaserplatten sowohl ausgefacht als auch von innen gedämmt ist. Die Mineraldämmung des neuen Daches wurde beim Teilabriss der benachbarten Kartbahn gewonnen. Für eine angenehme Luftfeuchtigkeit und Kühlung sorgen die Dachbegrünung und der Innenputz aus Lehm. Somit dient der Aufbau auch der energetischen Ertüchtigung der darunterliegenden Bestandsgeschosse. Diese erhielten lediglich auf der Südseite eine 140 Millimeter dicke Schicht aus Mineralwolle-Dämmplatten mit einem Bemessungswert der Wärmeleitfähigkeit λB von 0,035 W/mK. Im Gegensatz dazu blieb die massive Nordfassade ungedämmt, um ihre Speicherwirkung zur Klimatisierung des Gebäudes zu nutzen: Im Sommer sorgt sie für einen Kühleffekt, im Winter speichert sie die Sonnenenergie und unterstützt damit die Heizung. Dadurch kann der Einsatz von Technik reduziert werden. Um die Speicherkapazität der Nordwand effektiv auszunutzen, muss möglichst viel Licht in die Geschosse einfallen und auch Querlüftung möglich sein, die ein Aufwärmen der Räume verhindert. Dazu verfügen die vom Architekturbüro vorgesehenen Raumabtrennungen über Glasfelder und großzügig öffenbare Schiebetüren. -ml
Bautafel
Architektur: Hütten & Paläste, Berlin
Projektbeteiligte: Schiller Engineering, Hamburg (Bauphysik); Büro Rüdiger, Berlin (Tragwerksplanung); I.net Energie, Doberlug-Kirchhain (TGA-Planung); Ing.-Büro Wieczorreck, Berlin (Aufzug); ERTL und ZULL, Berlin (Stahlbau Balkonanlage)
Bauherr/in: Stiftung Edith Maryon, Basel
Standort: Neckarstraße 19, 12053 Berlin
Fertigstellung: 2021
Bildnachweis: Studio Bowie, Berlin (Fotos); Hütten & Paläste, Berlin (Pläne)
Fachwissen zum Thema
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