Zweifamilienhaus in Timmendorfer Strand
Reetdach aber anders
Timmendorfer Strand in Ostholstein gehört zu den beliebtesten deutschen Ostseebädern. In einem ruhigen Wohnquartier, rund 350 Meter von der Ostsee entfernt, hat der Hamburger Architekt Henrik Becker hier ein ungewöhnliches Zweifamilienhaus verwirklicht. Die Teilung des Hauses wurde nicht – wie meist üblich – quer zur Firstlinie gezogen, sondern mittig an dieser entlang, da dies den Bedürfnissen seiner künftigen Bewohner entsprach.
Gallerie
Spiel mit Transparenz und Leichtigkeit
Verwirklicht
wurde das Bauprojekt 2020 in einem Gebiet, das von Ein- und
Zweifamilienhäusern aus den 1970er-Jahren geprägt wird. Bei dem
südwestlichen Teil der Parzelle handelte es sich um den letzten
unbebauten Bereich der Siedlung. Auf der ansonsten freien Wiese,
befand sich lediglich ein kleines, reetgedecktes Sommerhaus aus den
1950er-Jahren. Der B-Plan ermöglichte wenig Spielraum, was die
städtebauliche Setzung des neuen Gebäudevolumens anbelangte: Eine
Baulinie zur Straße hin und ein begrenztes Baufeld waren eindeutig
vorgegeben, weshalb sich der Neubau nun längs zur Straße hin
orientiert.
Deutlich hebt sich das neue Gebäude von den umgebenden Bestandsgebäuden ab. Durch umlaufende Holzterrassen scheint das neue Haus geradezu über dem Garten zu schweben. Diesen Eindruck verstärken die großen, über Eck geführten Verglasungen der Räume im Parterre. Diese Glasfronten lassen den Kontrast zu dem schweren Dach umso stärker auf den Betrachter wirken. Den nördlich ausgerichteten Teil des Hauses nutzt die Bauherrschaft in Verbindung mit dem Bestandshaus. Dieser Gebäudeteil wendet sich von der Straße ab, er bildet so ein Gegenüber mit einer großen Wiese in der Mitte. Der vermietete südliche Gebäudeteil des Neubaus mit einem identischen Grundriss orientiert sich mit der Hauptseite zur Straße hin.
Konstruktiver Holzbau
Das Haus wurde auf einer
Ortbetonsohle errichtet. Sämtliche konstruktiven Elemente oberhalb
der Sohle bestehen aus Holzbauteilen aus dunkel lasiertem
europäischem Nadelholz. Die vertikale Tragstruktur verfügt über
Holzrahmenbauwände und massive Holzstützen. Die Holzstützen tragen
eine massive Holzdecke, die in Gebäudelängsrichtung spannt. An der
Giebel- und Traufseite wird diese in einem steifen umlaufenden
Rahmen gehalten. Im Erdgeschoss befindet sich jeweils der
Wohnbereich mit Wohn- und Essraum sowie eine Küche. Diese Wohnräume
öffnen sich über große Schiebefenster nach außen und scheinen in
den Gartenbereich zu streben. Ihre räumliche Grenze bildet die
Dachlinie. Über eine umlaufende Veranda führen drei Stufen hinunter
in den Garten.
Im Gegensatz dazu sind die Räume unter dem Dach eher introvertiert. So verfügen die Schlafzimmer nur über jeweils ein stehendes Fenster an den Giebelseiten. Ein kleiner Arbeitsbereich mit Schreibplatz unterhalb der Rundgaube über dem Eingangsbereich bietet nur demjenigen einen Blick in die Ferne, der vor dem Fenster sitzt. Der Galerieraum im 2. Obergeschoss, dessen Dachschräge spitz zuläuft, besitzt nur noch ein Oberlicht. Dieses sorgt zwar für Licht gewährt aber keine Ausblicke. Bei den Materialien im Gebäudeinnern überwiegt ebenfalls das Holz. Die Zimmerwände sind Holzständerwände, die im Erdgeschoss mit Dreischichtplatten aus Fichtenholz verkleidet sind. Auch die Böden sind in Holz gestaltet. Im Obergeschoss sind die Wände mit Gipsfaserplatten verkleidet.
Dach: Pfettendach mit Reetdeckung
Das steile
Pfettendach mit Reetdeckung und jeweils einer tiefgezogenen
zentralen Gaube über den Eingangsbereichen ist das bestimmende
architektonische Element des Neubaus. Trotz seiner eher
archetypischen Formgebung erinnert es nicht an betuliche Villen-
und Einfamilienhauskultur der 1950er Jahre, in denen das
jahrhundertealte Baumaterial schon einmal eine Renaissance erlebte.
Gerade der Kontrast zwischen den großzügigen Glasflächen im
Erdgeschoss und der mächtigen „Haube“ aus Reet lässt das Material
modern und zeitgemäß wirken. Das Dach ist in jedem Raum des
Gebäudes erfahrbar. So kann man im Erdgeschoss auf die auskragende
Unterseite über der vorgelagerten Veranda schauen, während man sich
in den Haupträumen der Obergeschosse in hohen dreieckigen Räumen
direkt unterhalb des Daches befindet. Je höher man unter das Dach
steigt, umso größer wird der Grad der Abgeschlossenheit und
Intimität der Räume.
Auf dem Dach sitzen vermeintliche Schornsteine. Sie dienen aber nicht wirklich dem Rauchabzug, sondern erinnern an die Formensprache historischer Reetdach-Vorbilder. Diese sind mit Blech verkleidet, während eine ihrer Traufseiten verglast ist, um Tageslicht in die beiden schmalen Galerien direkt unter dem Dach zu führen. Konstruktiv werden die Lasten des Daches über die Pfetten in die Stützen und das Fundament geleitet. Diese Struktur ermöglichte es, die Ecken verglast und stützenfrei zu gestalten und die Wohnräume maximal nach außen hin zu orientieren. Eine Herausforderung war bei der Planung, die Last des Reetdaches dabei mit zu berücksichtigen, da sich die Gebäudeecken erst nach der Eindeckung des Daches senkten. Aus diesem Grund befinden sich die Fenster vor der Gebäudestruktur.
Die Dachsparren sind in den Zwischenbereichen ausgedämmt, zudem hat man diese mit einer Holzfaserplatte bekleidet. Das Reetdach bildet als hinterlüftete Konstruktion die regenführende Schicht oberhalb der klimatischen Hülle.
Dachaufbau (von außen nach innen):
- Reetdeckung, 300 mm
- Lattung, 40 x 60 mm
- Konterlattung, 80 x 160 mm
- Unterspannbahn, 5 mm
- diffusionsoffene Holzfaserplatte, 16 mm
- Sparren, 240 mm
- Zwischensparrendämmung, 240 mm
- Sparschalung 24 x 80 mm
- Gipsfaserplatte beplankt, 12,5 mm
Bautafel
Architektur: Henrik Becker Architekt, Hamburg
Projektbeteiligte: Holzbau Pagels, Bad Segeberg (Zimmerei, Ingenieurholzbau); Thomas Timmermann, Lübeck (Dachdeckung, Dachabdichtung); Cornelius Back, Lübeck (Tragwerksplanung und Bauphysik)
Bauherr/in: privat
Standort: Timmendorfer Strand
Fertigstellung: 2020
Bildnachweis: Lisa Winter, Hamburg