Volks- und Berufsschule Längenfeldgasse in Wien
Fassade, Fluchttreppen und Rutsche aus Metall
Schule ist im Wandel – auch in Österreich. Nicht nur der Ausbau der Schulen zu Ganztagseinrichtungen, auch differenzierte Lehr- und Lernformen fordern ein Umdenken in Bezug auf die räumlichen Strukturen. Einzelne Klassenräume, auf Frontalunterricht ausgelegt, werden dem nicht gerecht: So ist das Prinzip „eine Nutzung, eine Klasse = ein Raum“ nicht zukunftsfähig. Es muss Möglichkeiten der Differenzierung geben, für Beratung, Therapie, Pflege und Förderung – nicht nur für unterschiedliche Lernformen, Klein- und Gruppenarbeit.
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Die Stadt Wien versucht mit dem Bau- und Investitionsprogramm
PFERD („PflichtschulERweiterungsDruck“) nicht nur den rasant
steigenden Schulraumbedarf zu decken, sondern auch diesen
Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die Hans-Mandl Berufsschule in
der Langenfeldgasse in Wien war bei ihrer Eröffnung 1965 das größte
Schulgebäude Österreichs; im vergangenen Jahrzehnt waren die
Kapazitätsgrenzen erreicht. 2016 lobte die Stadt Wien einen
Wettbewerb aus, um die Berufsschule samt einer dazugehörigen
Volksschule (Primarstufe 6-10 Jahre) um einen Neubau mit 23
zusätzlichen Klassen zu erweitern und eine Ganztagsgrundschule mit
weiteren 17 Klassen zu ergänzen. Die ortsansässigen PPAG architects
konnten diesen für sich entscheiden. Der Schulbetrieb startete im
August 2020 nach knapp zwei Jahren Bauzeit.
Differenzierte Höhen bilden Terrassenlandschaft
Das dicht bebaute, längliche Grundstück ließ wenig Spielraum für die Positionierung: An der unbebauten Stirnseite des Baufelds blieben nur das Gelände des Sportplatzes der bestehenden Berufsschule sowie die Obstbauwiese der Kochlehrlinge im knapp 2.100 Quadratmeter großen Schulgarten. Um diesen zu erhalten und auch künftig für die Schule nutz- und erlebbar zu machen, komprimierten die Architekten die Erweiterung für insgesamt knapp 750 Schüler zu einem Baukörper auf der Fläche des Sportplatzes. Differenziert in Höhe und Volumen, treppt dieser sich als Terrassenlandschaft über mehrere Ebenen von der nordwestlichen Nachbarbebauung zum Obstgarten im Südosten hinab.
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Die Grund- bzw. Volksschule bildet als zweigeschossiger Quader den Sockel des Schulgebäudes, über dem sich die Ebenen der Berufsschule staffeln, verjüngen und mehrere Terrassenebenen bilden. Separate Eingänge erschließen und trennen die beiden Schulformen, gemeinsame Freiräume führen die Schülerinnen und Schüler zusammen.
Cluster mit Lernlandschaft
Als zeitgemäßes räumlich-pädagogisches Konzept schufen die Architekten eine Clusterstruktur für den Grundschulbereich. Jeweils vier bis fünf Bildungsräume, angeordnet um eine „Lernlandschaft“ und ergänzt durch Räume für das Team und Rückzugsbereiche für die Kinder, bilden einen Cluster. Das System der vier Cluster der Grundschule ist in leicht abgewandelter und altersgerechter Form auf den Berufsschulbereich adaptiert.
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Gemeinsame Terrassen, Höfe und Obstgarten sollen alters- und schulübergreifende Begegnungen ermöglichen. Besonders breite Treppen übernehmen außer der verbindenden auch soziale Funktion. Sie sollen als Bewegungs-, Begegnungs- und Aufenthaltsort dienen – und sind außerdem Flucht- und Rettungstreppen. Prägnant sind die mit Rutschen ausgestatteten Außentreppen von der Terrasse des zweiten Obergeschosses hinab in den Garten.
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Gestalterisch reagieren die ausladenden Freitreppen als Stahlkonstruktion auf die Fassade: Im Sinne einer konstruktiv einfachen Bauweise aus standardisierten Bauteilen verkleiden vorgefertigte Leichtbauelemente die Stahlbetonstruktur des Schulgebäudes. Die Aluminiumpaneele mit unterschiedlichen Lochungen und einer hinterlegten blauen Windfolie verändern ihr Aussehen abhängig vom Sonneneinfall.
Brandschutzaspekte
Analog zu deutschen Bauordnungen ist auch das österreichische Baurecht Aufgabe der Bundesländer. Die Grundlage für das Projekt Volks- und Berufsschule Längenfeldgasse bilden u.a. das Wiener Stadtentwicklungs-, Stadtplanungs- und Baugesetzbuch (Bauordnung BO für Wien), die Richtlinien des Österreichischen Instituts für Bautechnik (OIB-Richtlinien) sowie die Richtlinie Brandschutz Schulen der Stadt Wien.
Freitreppe als Fluchtweg
Gemäß OIB-Richtlinie muss von jeder Stelle eines Raumes in maximaler Entfernung von 40 Metern (nach der deutschen Musterbauordnung sind es maximal 35 Meter) ein Ausgang ins Freie oder ein Treppenhaus mit entsprechender Brandwiderstandsdauer erreichbar sein. Zusätzlich ist ein weiterer, unabhängiger Fluchtweg über eine zweites Treppenhaus oder eine Außentreppe gemäß Abs. 5.1 OIB-Richtlinie (Flucht- und Rettungswege) zu gewährleisten.
Abs. 7.2 der OIB-Richtlinie (Besondere Bestimmungen) trifft hierbei spezifische Festsetzungen für Schulen und Kindergärten: So darf beispielsweise ein zweiter Rettungsweg bei Schulgebäuden nicht von Geräten der Feuerwehr abhängig sein – worauf sich ebenso Abs. 4.4 (Flucht- und Rettungswege) der Richtlinie Brandschutz Schulen bezieht.
Innen- und Außentreppen kombiniert
Für das Brandschutzkonzept der Volks- und Berufsschule ist eine Vielzahl von Innen- und Außentreppen kombiniert worden: Auf den ersten Blick komplex – in der Realität intuitiv nutzbar. Als Fluchttreppe in massiver Stahlbetonbauweise ausgebildet, verbindet die Innentreppe im Norden des Gebäudes als einzige sämtliche Geschosse. Im Erdgeschoss entfluchtet sie über das Foyer der Berufsschule und stellt die Haupterschließung in die Obergeschosse mit den Unterrichtsräumen dar.
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Ab dem ersten Obergeschoss beruht das Fluchtwegekonzept auf Außentreppen ergänzend zum Haupttreppenhaus. Zwar führen weitere Innentreppen herunter in das Foyer der Grundschule und in den Mensabereich mit direktem Ausgang ins Freie; eine einläufige, gerade Treppe an der Nordostfassade bildet als Stahlkonstruktion jedoch den kürzesten Fluchtweg aus dem östlichen Gebäudeteil.
Das zweite Obergeschoss übernimmt eine zentrale Funktion im
Entfluchtungskonzept. Der zweite Fluchtweg führt über ein System
von Außentreppen von den Terrassen der Obergeschosse zur markanten
Treppenanlage am östlichen Eingang der Berufsschule. Mehrere
parallel geführte Treppenläufe verzweigen sich spielerisch nach
unten – ergänzt durch eine Rutsche. Sie ist als schlichte
metallische Röhre dem Erscheinungsbild der Außentreppen angepasst
und ergänzt die Aluminium-Lochblechfassade des
Schulgebäudes.
Bautafel
Architektur: PPAG architects, Wien (Generalplanung)
Projektbeteiligte: Anna Popelka, Georg Poduschka, Paul Fürst, Florian Bartelsen, Jakub Dvorak, Billie Murphy, Lukas Ortner, Stefan Pall, Lucas Pfaffenbichler, Giorgia Pierleoni, Helena Wallander, Felix Zankel (Mitarbeiter/innen); EGKK Landschaftsarchitektur, Wien (Freiraumplanung); Werkraum Ingenieure, Wien (Tragwerksplanung); Bauklimatik, Wien (Gebäudetechnik); Kunz – Die innovativen Brandschutzplaner, Mödling (Brandschutzplanung); Institute of Building Research & Innovation, Wien (Tageslichtplanung); Raumkunst, Wien (Turnhalle)
Bauherr/in: Stadt Wien
Fertigstellung: 2020
Standort: Längenfeldgasse 17, 1120 Wien
Bildnachweis: Hertha Hurnaus, Wien
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