Mehrfamilienhäuser Wohnzwilling in Wolfsburg
Dämmung mit solar erwärmter Luft
Sonnenenergie zu nutzen, muss nicht zwangsläufig bedeuten, Solaranlagen auf Dächern oder an Fassaden zu installieren. Wie sie sich überdies zur Wärmedämmung nutzen lässt, demonstrieren die beiden Mehrfamilienhäuser Wohnzwilling in Wolfsburg. Die Gebäude mit der dynamischen Luftkollektorfassade hat das Büro RTW Architekten geplant. Inspiriert wurden sie von den Prinzipien der kybernetischen Architektur.
Gallerie
Nur zwanzig Gehminuten vom Wolfsburger Zentrum entfernt breiteten sich östlich der Hellwinkel-Schule in der Vergangenheit Kleingärten aus. Im Rahmen der seit 2012 laufenden Wohnbauoffensive, bei der die Stadtverwaltung zusammen mit Investoren mindestens 10.000 zusätzliche Wohnungen bis 2025 schaffen möchte, mussten sie den Hellwinkel-Terrassen weichen. Seit einigen Jahren entstehen hier nun – einem städtebaulichen Konzept des Büros SMAQ folgend – verschiedene Wohngebäude und begrünte Außenräume. Hinzu kommen Läden, ein Kindergarten, Tiefgaragen und eine zentrale, autofreie Promenade.
Bereits fertiggestellt sind die beiden jeweils sechsgeschossigen Quader der Wohnzwillinge, die sich ein gemeinsames Erdgeschoss teilen. Das Äußere prägen die weit auskragenden Balkone und milchig-gräulichen Polycarbonatfassaden der Obergeschosse. Dahinter befinden sich die meisten der 20 bzw. 26 Eigentumswohnungen mit ihren zwei bis vier Zimmern. Im Parterre sind neben Kleinstwohnungen mit Schlafgalerie auch ein Fahrradabstellraum mit 90 Plätzen, ein Gemeinschaftsraum sowie Sauna- und Trainingsräume untergebracht. Dazwischen liegt ein durchgestecktes Foyer mit Sitzstufen und Zugang zu den beiden Erschließungskernen. Im Untergeschoss befinden sich außerdem eine Tiefgarage und zu den Wohnungen gehörende Kellerräume.
Luftkollektoren als Dämmstoffalternative
Der Entwurf für das Projekt ging aus einem zweistufigen Wettbewerb hervor, bei dem sich Investoren und Architekturbüros gemeinsam für einzelne Baufelder bewerben konnten. Nachhaltigkeitskonzepte und monolithische, WDVS-freie Mauerwerksfassaden waren gefragt. Auf der Suche nach Alternativen stieß RTW Architekten auf die Forschung und Planungspraxis von Günter Pfeifer, Architekt und emeritierter Professor der Technischen Universität Darmstadt. Die von ihm entwickelte Kybernetische Architektur zielt darauf ab, mit geringem technischem Aufwand die Wärmeenergie der Sonne einzufangen, zu puffern und nutzbar zu machen (siehe Tipps zum Thema). Eine Möglichkeit diese Effekte zu erreichen, sind dreischichtige Fassadenaufbauten: Durch ein transluzentes Außenmaterial gelangt Sonnenenergie in eine dahinterliegende Luftschicht. Diese wird erwärmt und bildet so eine dämmend wirkende Pufferzone zwischen Innen- und Außentemperaturen. Gleichzeitig verteilt die Luftschicht die Wärmeenergie, die von der dritten, massiven Schicht aufgenommen, gespeichert und zeitversetzt wieder abgegeben wird. So werden die Fassadenflächen zu großen Luftkollektoren, vergleichbar mit Wintergärten (siehe Objekte zum Thema). Durch Diffusionsstrahlung erreicht die solare Energie auch die nicht direkt der Sonne ausgesetzten Bereiche.
Dämmstoffe: Luft, Polystyrol und (ein wenig) Mineralfasern
Dieses Prinzip kam auch beim Wohnzwilling zur Ausführung. Rund 145 mm dick ist die Luftschicht zwischen den tragenden Außenwänden aus 240 mm starken Kalksandstein-Planelementen mit 5 mm Armierungsgewebe und der vorgehängten Fassade. Diese besteht aus 50 mm dicken Polycarbonat-Mehrfachstegplatten mit einem U-Wert von 0,90 W/m2K, die mit einer Aluminium-Unterkonstruktion befestigt wurden. Die Wahl fiel auf Kalksandsteinmauerwerk, weil es gegenüber den ursprünglich vorgeschlagenen Dämmziegeln neben einer größeren Tragfähigkeit auch bessere Brand- und Schallschutzeigenschaften bietet.
Selbst im Winter und an bewölkten Tagen ist die Temperatur der
Luftschicht um 10° C höher als die Außentemperatur, bei
Sonnenschein kann der Unterschied 30 bis 60° C betragen. Die
Temperatur in den Luftkollektoren kann mithilfe von
Lammellenfenstern am Dachrand, die als Lüftungsklappen dienen, und
Gittern im Sockelbereich, die als Zuluftöffnungen fungieren,
reguliert werden. Sind die oberen Fassadenklappen geschlossen,
wirkt die stehende, sonnenerwärmte Luft dämmend. Bei besonders
hohen Temperaturen, lässt sich die Luftschicht abkühlen, indem die
Lammellenfenster am Dachrand geöffnet werden und so ein Luftzug
entsteht. Diese Lüftungsklappen können im Brandfall außerdem für
eine gezielte Rauchableitung aus der Fassade durch die Feuerwehr
genutzt werden.
Ganz ohne feste Dämmstoffe kommt der Wohnzwilling jedoch nicht aus: Weniger oder gar nicht durchströmte Bereiche der Fassade, etwa zwischen Balkonen oder bei übereinander angeordneten Fenstern, erhielten eine mineralische Dämmung von 20 mm, an der Nordfassade sogar von 60 mm. Mineralfasern kamen auch im Erdgeschoss zum Einsatz, wo sich zwischen der 115 mm starken, hinterlüfteten Vollklinkerfassade und dem Kalksandstein-Mauerwerk eine 180 mm dicke Dämmschicht verbirgt. Den Übergangsbereich zwischen Sockel und Untergeschoss schützt eine Schicht extrudiertes Polystyrol von 160 mm Stärke. -ml
Bautafel
Architektur: RTW Architekten, Hannover
Projektbeteiligte: Manthey Immo, Braunschweig (Projektentwicklung und Vermarktung); Planungsbüro Maik Schmidt, Katlenburg-Lindau (Regenwasserrückhaltekonzept); Ingenieurbüro Ehrhardt + Rettke, Göttingen (Statik); BESAG, Darmstadt (Brandschutznachweis für Fassade); Balck + Partner, Heidelberg (Bauphysik); Fondation Kybernetik (unter Leitung von Günter Pfeifer und Annette Rudolph-Cleff), Darmstadt (Bauphysik);Transsolar, Stuttgart (Bauphysik; thermodynamische Simulation); Rodeca, Mülheim an der Ruhr (Hersteller Polycarbonatplatten); Colt, Kleve (Hersteller Lamellenfenster)
Bauherr/in: P & D Wohnkonzepte, Langenhagen
Standort: Wolfsburg
Fertigstellung: 2021
Bildnachweis: Frank Aussieker, Hannover (Fotos); RTW Architekten, Hannover (Pläne)
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