Forschungsgebäude Science and Engineering Complex in Allston
Impulsgeber für Forschung und Nachhaltigkeit
Auf dem Feld ingenieurtechnischer Innovationen und technologisch hochentwickelter Bauwerke genießen Behnisch Architekten weltweites Renommee. Fast schon zu einem Markenzeichen der Stuttgarter Architekturschaffenden mit Dependancen in München, Los Angeles und Boston sind futuristisch anmutende Sonnenschutzfassaden aus komplex gefalteten Metallelementen geworden, die sich netzartig als zweite Hülle um die Bauwerke legen: Schon ein Forschungszentrum in Lausanne und die Adidas Firmenzentrale in Herzogenaurach stattete das Architekturbüro damit aus. Dabei wurden Form, Materialwahl sowie Herstellungsprozess mit jedem Projekt weiterentwickelt, immer mit dem Ziel, das Raumklima für die Nutzenden sowie die Ökobilanz des Bauwerks zu optimieren. Das jüngste Beispiel dieser Reihe lässt sich seit 2020 an der Harvard-Universität in Boston inspizieren: Der Science and Engineering Complex (SEC) ist ein Lernzentrum und Laborgebäude für zahlreiche Fachgebiete. Gefüllt mit Innovationen auf dem Gebiet des nachhaltigen Bauens, von denen die Sonnenschutzfassade aus Edelstahl nur der nach außen sichtbarste Teil ist, soll die Forschungseinrichtung die Laufrichtung vorgeben für künftige Bauvorhaben der amerikanischen Eliteuniversität.
Gallerie
Ein neuer Campus für Harvard
Das SEC ist der neue
Sitz der Harvard John A. Paulson School of Engineering and
Applied Science (SEAS) und führt wesentliche Teile des
Instituts an einem Ort zusammen. Es handelt sich zudem um eines der
ersten Gebäude am neuen, noch in der Entwicklung befindlichen
Standort Allston, der sich – getrennt durch den Charles River –
gegenüber dem historischen Campus der über 400 Jahre alten
Universität in Cambridge befindet. Das Gebäude ist auf dem
Fundament eines Vorgängerbaus entstanden, an dem die Bauarbeiten
2008 eingestellt worden waren. Zwischen Flachbauten und Parkplätzen
erhebt sich auf einem parkartig angelegten Grundstück der
siebengeschossige und vielseitig gegliederte Baukörper.
Die insgesamt 50.000 Quadratmeter Fläche verteilen sich auf zwei Untergeschosse, einen zwei- bis dreigeschossigen u-förmigen Sockel sowie einem darüber liegenden vier- bis fünfgeschossigen Riegel. Verbunden werden die drei Zonen intern durch zwei auf der südlichen Gebäudeseite platzierte Atrien, in deren Lufträumen Roll- und Freitreppen den Geschosswechsel ermöglichen. Die zwei Untergeschosse verlaufen über die gesamte Grundstücksgröße und nehmen Parkplätze, Technik und auch universitäre Einrichtungen auf, wie etwa Hörsäle und Werkstätten. Letztere werden durch einen offenen Hof im Bereich des Gartens natürlich belichtet. Weitere Treppenhäuser und Fahrstühle befinden sich in drei zusätzlichen Erschließungskernen.
Nutzungsbedingte Komposition der Baumassen
Im Sockel
befinden sich die Eingangshalle, gastronomische Einrichtungen sowie
Hörsäle und Büros. Aber auch Seminarräume und die sogenannte
Kreativwerkstatt sind hier effektvoll untergebracht: Angeordnet auf
der nördlichen Gebäudeseite lässt sich das Universitätsgeschehen
darin von der hier verlaufenden Western Avenue, einer der
Hauptverbindungsachsen in Allston, mitverfolgen. Die drei
Sockelebenen sind südlich gestaffelt und durch auskragende,
begrünte Dachterrassen geprägt, die einen fließenden Übergang in
den Garten schaffen. Der darüber liegende Riegel hebt sich davon
ab. Außen durch die metallisch flirrende Sonnenschutzfassade
gekennzeichnet, ist die Baumasse hier so unterteilt, dass das
Volumen als eine Verzahnung unterschiedlich großer Quader
wahrgenommen wird.
Die hier untergebrachten und von außen dank der transparent gehaltenen Glasfassade gut sichtbaren Seminar- und Laborräume teilen sich auf in Versuchs- bzw. Nasslabore und Computer- bzw. Trockenlabore. Die Nasslabore stehen Studierenden und Wissenschaftspersonal der Fachbereiche Biologie, Chemie, Physik und Optik bis hin zur Elektrotechnik zur Verfügung. In den Trockenlaboren finden auf den IT-Bereich spezialisierte Personen ideale Bedingungen vor. Durch lebendig gestaltete Begegnungszonen sollen Interdisziplinarität und fruchtvolle Synergien gefördert werden: So arbeiten an der SEAS die Studierenden und Forschenden etwa zu mobiler Robotik, zu fliegenden oder schwimmenden Mikrobots, neuen Tools für den Datenschutz, innovativen Plattformen oder an intelligenten Schnittstellen zwischen Hirn und Elektronik.
Auf dem neuesten Stand des nachhaltigen Bauens
Nicht
nur unter der Prämisse, das „gesündeste Bauwerk auf Harvards
Campus“ zu sein, wurde das SEAS geplant. Es soll überdies zu einem
Vorbild für nachhaltige Forschungsarchitektur der gesamten USA
werden. Auf die erfolgreiche Umsetzung dieses Plans lassen einige
wichtige nationale Zertifikate schließen, mit denen das Projekt
dekoriert wurde. So erhielt es mit „LEED Platinum“ die höchste
Auszeichnung des United States Green Building Council (USGBC). Der
Innenraum wurde mit der „Living Building Challenge (LBC), Petal
Certification in Materials, Beauty and Equity” des International
Living Future Institute (ILFI) ausgezeichnet, was insbesondere auf
die Verwendung von ausschließlich gesunden Baumaterialien schließen
lässt.
Etwa 20.000 Quadratmeter begrünte Dachfläche verbessern das
Klima in der unmittelbaren Umgebung des Gebäudes und tragen zur
Kühlung bei. Über ein sogenanntes „Bioswale“, eine Art Rigole, die
unterhalb des Gartens verläuft, wird Regenwasser auf natürliche
Weise gereinigt und zu einer im Untergrund liegenden Zisterne
geleitet, um sodann in Gebäude und Garten zur Bewässerung verwendet
zu werden. Der Energieaufwand für die Lüftung – bei Laboren
üblicherweise einer der größten Posten – wurde durch eine
thermodynamisch optimierte Planung des Bauwerks und seiner Hülle um
bis zu einem Drittel reduziert. Um etwa 50 Prozent wurden die
CO2-Emissionen im Vergleich zu ähnlichen, konventionell
erstellten Gebäuden reduziert.
Sonnenschutz: Hydrogeformte Edelstahl-Elemente, Glaslamellen und
Überkopfverschattungen
Teil des weitreichenden
Nachhaltigkeitskonzeptes und entscheidend für die Energieeffizienz
ist die Gebäudehülle. Sie sieht vier verschiedene Fassadensysteme
vor, von denen drei über jeweils unterschiedliche
Sonnenschutzsysteme verfügen. Signet des Gebäudes ist die Fassade
der oberen Geschosse mit hochfunktionalem, feststehenden
Sonnenschutz: Eine zweite Haut aus ultraleichten Edelstahlelementen
ummantelt die thermische Hülle und verleiht dem Gebäude eine zur
Nutzung passende Hightech-Anmutung. Um das Innere vor Überhitzung
zu schützen, gleichzeitig Tageslicht in den Raum zu lenken und
Ausblicke jederzeit zu ermöglichen, wurde die Fassade entsprechend
ihrer jeweiligen Ausrichtung in jede Himmelsrichtung individuell
maßgeschneidert.
Die Fassade fügt sich aus 12.000 Einzelelementen zusammen. Gefertigt wurden die jeweils 75 x 75 cm großen Elemente aus 1,5 mm starkem Edelstahlblech. Für die Herstellung der Metallelemente wurde eine im Gebäudesektor erstmals eingesetzte Methode angewendet: Das sogenannte Hydroforming-Verfahren stammt aus der Automobilherstellung und erlaubt besonders filigrane Bauweisen. Dabei wird der Rohling in eine Form eingelegt und unter hohem Druck mit Hilfe eines zugeführten Fluids von innen an die Form expandiert.
14 Varianten für vier Himmelsrichtungen
In Größe und
Form sind die in 14 Varianten ausgeführten Elemente exakt auf die
jeweilige Position an der Fassade und den Sonnenstand abgestimmt.
So verfügen die drei Varianten der Ostfassade über tiefe
Ausstellungen am oberen und am linken Rand. Die drei Varianten der
Westfassade sind vertikal gespiegelt. So wird insbesondere
seitliches Sonnenlicht abgeschirmt. Die vier Elemente der
Südfassade verfügen über tiefe Schurze an den Seiten und an der
Oberseite, sodass das steil einfallende Licht der
Mittagssonne von direktem Eindringen abgehalten wird. Nur
geringfügig ausgestellte Schurze oben, unten und rechts haben die
vier Varianten der Nordfassade. Sämtliche Elemente sind an den
äußeren Rändern der Schurze perforiert, sodass der Kontrast von
Lichteinfall und Verschattung auf ein angenehmes Maß gemindert
wird.
Für den Entwurf der Elemente ließ sich ein Team aus Fachleuten des Ingenieurwesens und der Herstellung sowie aus den Bereichen Beleuchtung und Klima von Gebrauchsgegenständen wie etwa Blechdosen, Schubkarren oder Karosserien inspirieren. Der Entwicklungsprozess hin zur optimalen Gestalt, der Materialstärke sowie dem passenden Herstellungsverfahren wurde von zahlreichen Untersuchungen, dem Einsatz von Simulationssoftware aus dem Industriedesign sowie Verfahren des Rapid Prototyping begleitet. Vor Produktionsbeginn wurde die Effektivität der Elemente anhand eines Mockups in Originalgröße geprüft.
Überkopfverschattung und Tageslichtlenkung
Der zweite
Fassadentyp kommt in den drei Sockelgeschossen zum Einsatz. Die
Gründächer kragen hier leicht über die Fensterbänder aus und dienen
dadurch als Überkopfverschattung. Zusätzlich sind die Öffnungen mit
horizontalen Sonnenschutzelementen ausgestattet. Diese sorgen auch
für die Speisung des Innenraums mit natürlichem Tageslicht: Über
Lamellen wird dieses zunächst an die
Geschossdecke und sodann diffus in den Innenraum
reflektiert.
Auch der dritte Fassadentyp verfügt über einen feststehenden Sonnenschutz: Die Atriumfassaden sind mit etwa 20 m Höhe und 23 m Breite die größten zusammenhängenden Glasflächen. Bei sommerlichen Temperaturen und Sonnenschein sind diese Bereiche darum besonders durch Überhitzung gefährdet. Damit das nicht passiert, sondern vielmehr ein angenehmes Klima herrscht, verfügen die riesigen Flächen über maßangefertigte außen liegende Verschattungselemente, die gleichzeitig als Windfang dienen. Sowohl diese großdimensionierten Horizontallamellen als auch die Glasfassade mit Dreifachverglasung sind an der Dachkonstruktion aufgehängt.
Nur die nördlich gelegene Fassade des über zwei Geschosse
geöffneten Eingangsbereichs verfügt über keinen Sonnenschutz. Dafür
sind in die dreifachverglaste Stahlfassade motorisch gesteuerte
Lüftungsöffnungen integriert, die eine Nachtluftspülung
ermöglichen. Durch die feine Austarierung des Sonnenschutzes kann
die Kühllast des Gebäudes nach Angaben von Behnisch Architekten in
sommerlichen Spitzenzeiten um bis zu 65 Prozent verringert werden.
Im Winter ermöglicht der hohe Transparenzgrad der Fassade ein
Eindringen des tiefer einfallenden Sonnenlichts, wodurch der solare
Energiegewinn die Heizlast des Gebäudes reduziert.
Bautafel
Architektur: Behnisch Architekten, Boston
Projektbeteiligte: Buro Happold, New York / Boston (Tragwerk); Transsolar, New York (Energie- und Umwelttechnik); Knippers Helbig, Stuttgart / New York (Fassade); Bartenbach, Aldrans / Lam Partners, Boston (Licht); Van Zelm Heywood & Shadford, Farmington (HLS / Brandschutz); Jacobs Laboratory Planning Group, Tarrytown (Laborplanung); Ockert und Partner, Stuttgart (Gebäudeleitsystem); Steven Stimson Associates Landscape Architects, Cambridge; Code Red Consultants, Southborough (Gebäudesicherheit);Thorton Thomasetti, Portland (LEED Beratung)
Bauherr/in: The President and Fellows of Harvard College, Cambridge, USA
Fertigstellung: 2021
Standort: 150 Western Avenue, Allston, 02134 Massachusetts, USA
Bildnachweis: Brad Feinknopf
Baunetz Architekt*innen
Fachwissen zum Thema
Bauwerke zum Thema
Baunetz Wissen Sonnenschutz sponsored by:
MHZ Hachtel GmbH & Co. KG
Kontakt: 0711 / 9751-0 | info@mhz.de