Jugendtreff in Ingersheim
Zweites Leben für die Schalungen des Stuttgarter Hauptbahnhofs
Bei der Herstellung von Betonbauteilen ist die Schalung unverzichtbar, doch mit Erhärtung des grauen Baustoffs verliert sie ihren Wert und wird zu Sondermüll. Dabei sind viele Schalungen aus hochwertigem und leistungsfähigem Material gefertigt. Bei Stuttgart steht seit vergangenem Jahr ein Bauwerk aus Schalungselementen des neuen Hauptbahnhofs. Der Jugendtreff Ingersheim ist das erste umgesetzte Pilotprojekt von Stuttgart 210, einem Forschungsvorhaben, bei dem die Wiederverwendung der Elemente untersucht wird.
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Das Bauwerk mit einer Gesamtfläche von ca. 50 Quadratmetern steht selbstbewusst als elliptischer Zylinder auf einer grünen Wiese nahe dem Neckar. Vertikale Holzlamellen, auf einer Bretterschalung montiert, bilden die homogene Hülle. Die Verkleidung ist in zwei Bereiche gegliedert: Oben folgen die Fichtenlatten der strengen elliptischen Form, unten lockern organisch anmutende Rücksprünge und Öffnungen das Bild auf. Wo die Fassade zurückweicht, entstehen überdachte Sitznischen mit geschwungenen Holzbänken. Das Gebäude kann über zwei Zugänge, im Osten und im Westen, betreten werden. Da sich die Eingänge hinter der Lattung verstecken, ist der Innenraum von außen nicht direkt einsehbar.
Die spektakulären Formen und Oberflächen der Schalungsbretter offenbaren sich den Besucher*innen erst beim Betreten. Zwölf der geometrisch komplexen Vollholzelemente bilden einen zeltförmigen Innenraum und stellen damit den wesentlichen Teil des Tragwerks dar sowie sämtliche Innenoberflächen. Sie stehen auf einer Bodenplatte und Sockelwänden aus Stahlbeton – damit formen sie eine Art Holz-Beton-Verbundsystem.
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Im Gebäudeinneren erschließt sich ein kreuzförmiger Grundriss. Die Räume unter den spitzgewölbten Decken sind hoch. Die Bewegungsführung innerhalb des Gebäudes ist indirekt und labyrinthisch, was eine besondere Raumatmosphäre schafft. Große Fenster im Norden und Süden sowie ein Oberlicht lassen Tageslicht einfallen. Holzbänke vor den Fenstern laden zum Verweilen ein.
Das Dach besteht aus einer einfachen Balkenlage. Es wird von einem Aufsatz aus vier Holz-Tafelbauwänden mit umlaufendem Randbalken, welcher auf den Schalungselementen aufliegt, getragen. Die Balkenlage ist mit Dreischichtplatten beplankt, darauf sind Gefälledämmung und Abdichtung verlegt. Davon abgesehen kamen keine Folien oder Unterspannbahnen zum Einsatz. Außerdem wurden weder Klebstoffe noch Lacke verwendet, die Holzoberflächen stattdessen lediglich abgeschliffen und naturbelassen.
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Schalung: Gewölbe der Betonbaukunst
Einst wurden die sehr großen und aufwändig zu transportierenden Schalungen für den Bau des Fußgängertunnels am südlichen Ende des Stuttgarter Bahnhofs verwendet. Für gewöhnlich werden speziell angefertigte Holzschalungen wie diese nach ihrem Einsatz auf der Baustelle thermisch verwertet, sprich in einem Heizkraftwerk verbrannt. Dabei durchliefen sie einen anspruchsvollen und teuren Herstellungsprozess: Ein 8-Achsen-Roboter fräste die dreidimensional geschwungenen Elemente aus meterdicken Schichten von mehrfach blockverleimtem Brettsperrholz.
In Ingersheim formen sie nun ein Gewölbe, das für einen kommunalen Jugendtreff normalerweise unbezahlbar wäre. Der Entwurf stammt von einem Team wissenschaftlicher Mitarbeitender, den Bau übernahmen Studierende. So entstand das erste Pilotprojekt des Forschungsvorhabens Stuttgart 210. Beteiligt sind die Hochschule für Technik, Wissenschaft und Gestaltung Konstanz (HTWG Konstanz), die Hochschule für Technik Stuttgart (HFT Stuttgart) und die Hochschule Karlsruhe (HKA). Zwischen 2022 und 2024 suchten Forschende hier gemeinsam nach Alternativen zur thermischen Verwertung (siehe Tipps zum Thema).
Bautafel
Architektur: Arge 4K Architekten - Klingelhöfer, Kretzer, Kreuzer, Krötsch, Raabe, Stemmler (Entwurfsteam: Andreas Kretzer, Roman Kreuzer, Katharina Raabe und Maximilian Stemmler)
Projektbeteiligte: Studierende und Mitarbeitende der Hochschule für Technik, Wissenschaft und Gestaltung Konstanz, der Hochschule für Technik Stuttgart und der Hochschule Karlsruhe sowie der CEPT Ahmedabad und der ITÜ Istanbul (Bauarbeiten); Klingelhöfer Krötsch Architekten, Partnerschaftsgesellschaft (Ausführungsplanung und Bauleitung); Faltlhauser Krapf (Tragwerksplanung); ProHolz Baden-Württemberg, Ostfildern; ZÜBLIN Timber, Aichach; Ed. Züblin, Stuttgart; Holzbau-Offensive Baden-Württemberg, Stuttgart
Bauherr*in: Gemeinde Ingersheim, vertreten durch Bürgermeistern Simone Lehnert
Standort: Baumwasenweg, 74379 Ingersheim
Fertigstellung: 2024
Bildnachweis: Achim Birnbaum (Fotos), Andreas Kretzer