Von der Hauswand zur Brücke
Forschung zum zweiten Leben von Stahlbeton
Was wäre, wenn jedes überholte Betonbauteil nicht entsorgt, sondern in Blöcke geschnitten und wiederverwendet werden würde? Eine solche Vision steckt hinter einem Projekt von Forschenden der Schweizer Hochschule École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EFPL). In den Hallen des Structural Xploration Labs (SXL) in Freiburg bauten sie für das Projekt RE:CRETE einen Prototypen für eine Fußgängerbrücke. Dafür verwendeten sie Stahlbetonblöcke, die aus den Wänden eines als renovierungsbedürftig erklärten Gebäudes stammen.
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Die Herstellung von Beton ist alles andere als umweltfreundlich: Fast ein Zehntel der von Menschen verursachten Treibhausgasemissionen sind auf die Herstellung von Zement, dem Hauptbestandteil von Beton, zurückzuführen. Zugleich macht der Baustoff rund die Hälfte des Abbruchabfalls aus. Abfall? Gängige Praxis ist, sogenannten Altbeton zu Zuschlagstoffen zu zerkleinern, die in neuen Betonmischungen verwendet werden – doch das verbraucht viel Energie. Hingegen zögern viele Mitarbeitende in der Baubranche, Betonteile wiederzuverwenden. Ihre Bedenken möchte das Forschungsteam ausräumen. Das zur Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen gehörende Institut sitzt am Smart Living Lab in Freiburg, einer gemeinsamen Forschungsstätte der EFPL, der lokalen Hochschule für Technik und Architektur und der Universität Freiburg. Hier werden seit 2016 Möglichkeiten untersucht, den CO2-Fußabdruck der Bauindustrie durch Methoden der Kreislaufwirtschaft zu verkleinern. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befassten sich bereits mit der Wiederverwendung von Metallbauteilen und Fernstrommasten. Im Rahmen des Projekts RE:CRETE steht nun Beton im Fokus.
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Brücke aus Blöcken
Um zu zeigen, dass Betonelemente in
ihrem zweiten Leben genauso zuverlässig wie in ihrem ersten sind,
baute das Team des SXL mit ihnen einen Prototypen für eine
Fußgängerbrücke. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
arbeiteten mit einem Abbruchunternehmen zusammen, das just einen
Auftrag in der Region erhalten hatte. Das Unternehmen sägte die
Blöcke aus den Wänden und Decken eines kaum 10 Jahre alten Gebäudes
und bohrte anschließend Löcher für die Spannkabel. An der EFPL
setzte das Forschungsteam 25 Stücke auf einer provisorischen
Holzkonstruktion zu einem 10 Meter langen Bogen zusammen. Zwischen
die etwa 20 cm dicken Blöcke gleicht Mörtel die leichten
Unterschiede in den Abmessungen aus. „Bögen sind im Grunde die
ideale Tragstruktur für die Wiederverwendung von Betonblöcken, da
das Material nur Druckkräften ausgesetzt ist“, sagt Jan Brütting,
der das Projekt initiierte. Er und Maléna Bastien Masse führten die
Forschung im Rahmen ihres Postdoktorats durch. Zusammen mit Julie
Devènes und Maxence Grangeot haben sie die Brücke entworfen.
Dreizehn weitere Menschen haben bei der Umsetzung und Dokumentation
des Projekt geholfen.
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Umkehr der Beton-Entwurfspraxis
Das Vorgehen am SXL
stellt den herkömmlichen Entwurfsansatz auf den Kopf: Anstatt
frischen Beton entsprechend den Anforderungen des jeweiligen
Projekts zu gießen, gerät bestehende Bausubstanz in den Blick und
die Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus ihrer Form und
Materialität ergeben. Allerdings können die Eigenschaften
vorhandener Elemente variieren. Nicht immer sind sie im Voraus
bekannt. Um Ingenieurbüros bei der praktischen Umsetzung neuer
Planungsmethoden zu unterstützen, entwickelte das SXL die Software
Phoenix 3D (siehe Surftipps), mit der wiederzuverwendende
Bauteile automatisiert aus einem vorhandenen Bestand ausgewählt
werden. Die Software ist ein Plug-In für Grasshopper3D, die
interaktive parametrische Umgebung innerhalb von Rhino3D –
eine in Architektur- und Konstruktionsbüros weit verbreitete
Modellierungssoftware.
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Bewährungsprobe im Freien
Nach erfolgreich
abgeschlossenen Belastungsprüfungen wurde die Brücke im Oktober
2021 schließlich feierlich eingeweiht. Ein halbes Jahr später
installierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die
Brücke über einem Fluss im Kanton Wallis. Hier soll sie über zwei
Jahre hinweg für den Fußverkehr zur Verfügung stehen, während das
Forschungsteam den Verwitterungsprozess überwacht. Ursprünglich war
die Brücke nicht für den Einsatz im Freien konzipiert. Ein paar
einfache Maßnahmen schützen sie nun vor Wasser und gewährleisten,
dass sie sicher betreten werden kann: Angeschnittene
Bewehrungsstäbe wurden mit Korrosionsschutzfarbe überzogen. Die
Ein- und Austrittsstellen der Spannseile wurden mit Mörtel
verfüllt. Die Blockfugen wurden mit Klebeband abgedichtet, das mit
einer rutschfesten Schicht bedeckt ist. Natürlich erhielt die
Brücke auch ein Geländer: Es besteht aus Metallrohren ausgedienter
Festzelte und Stahldrahtgewebe aus dem Ladenausbau.
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