Krematorium bei Ostende
Betonstillleben als fünfte Fassade
Manche sprechen vom Dach als fünfte Fassade – Aber wie wird sie für die Menschen vom Boden aus sichtbar? Die Mitarbeitenden des belgischen Büros OFFICE Kersten Geers David Van Severen hatten eine Idee: Sie neigten die enorme quadratische Dachfläche des Crematorium Polderbos bei Ostende. Wer sich dem Flachbau von der Stadt kommend nähert, kann so die Komposition aus geometrisch-skulpturalen Aufbauten, Oberlichtern und den Kanälen des Drainagesystems erahnen.
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Für all jene, die im Rahmen einer Feuerbestattung Abschied nehmen von Verstorbenen, ist das Krematorium eine der wichtigen Stationen. Der Gebäudetyp mit seinen Kühlräumen, den riesigen Öfen und zahlreichen Nebenräumen zur Anlagensteuerung und Vorbereitung der Zeremonien ist einerseits geprägt von technischen Geräten und den damit verbundenen Abläufen. Andererseits soll all das den Gästen verborgen bleiben, wenn sie am Gebäude ankommen und in der Trauerhalle Platz nehmen. Diesen Zwiespalt wollte das Planungsteam überwinden, indem es das neue Crematorium Polderbos als großen gekippten Betontisch entwarf.
Die Deckenplatte des Flachbaus erscheint als helles Quadrat zwischen den Gräsern, Sträuchern und Büschen der Polder südöstlich von Ostende. Künftig wird auf dem ehemaligen Ziegeleigelände außerdem eine vom Büro Bas Smets entworfene Landschaft mit rhythmischen Baumreihen und weiteren Elementen heranwachsen. Die Bäume werden auch die zwei parallelen Stichstraßen säumen – eine für den Bestattungsbetrieb und eine für Trauergäste – die von Süden kommend weit auf das Grundstück führen und jeweils mit einer Schleife am neuen Krematorium enden. Neben einer Rundung an der niedrigsten Stelle des Gebäudes befindet sich der Haupteingang. An der gegenüberliegenden Ecke, wo der Schornstein durch die Dachplatte sticht, befindet sich der höchste Punkt des Gebäudes – und ein weiterer Zugang für Angestellte, der direkt zu den technischen Räumen führt.
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Flachdach mit Betonstillleben
Durch die Neigung
entlang der diagonalen Achse werden die zahlreichen skulpturalen
Elemente sichtbar, die sich über die quadratische Dachfläche
verteilen: zwei angeschnittene Kuppeln – eine kantig, die andere
kugelförmig – eine Betonscheibe mit elliptisch gebogener Rückwand
sowie zwei Durchbrüche in Form einer halben Ellipse und eines
Dreiecks. Hinzu kommen unzählige punktartige Oberlichter. Dieses
abstrakte Stillleben entwarf das Architekturbüro gemeinsam mit dem
Künstler Richard Venlet. In eines der Elemente integriert ist der
Schornstein. Genauso sind die tief in die Dachhaut eingeschnittenen
Entwässerungsrinnen Teil der Komposition, die von Weitem als dunkle
Linien erscheinen. Sie führen das Regenwasser überwiegend ins
Gebäudeinnere, wo es in den Wänden abgeleitet wird. Außen sind
zusätzlich Rohre in zwei der Rundstützen integriert. Die
umlaufende, äußere Stützenreihe hat das Entwurfsteam bis an die
Dachkante herangerückt. Das eigentliche Gebäudevolumen hingegen ist
etwas kleiner als die Dachfläche. Auf diese Weise entsteht –
ähnlich einer Kolonnade – eine Folge überdachter Außenräume mit
meist trapezförmigen Grundflächen.
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Raumhaltige Wände für ungestörte Trauerzeremonien
Die
besondere Geometrie der Kolonnade entsteht, weil der Grundriss des
eingeschossigen Gebäudes diagonal zur quadratischen Dachfläche
verdreht und in Streifen gegliedert ist: Vier breitere nehmen
jeweils eine der Hauptfunktionen auf: die Krematoriumstechnik im
Westen, die beiden Trauerhallen in der Mitte und das Foyer und den
Büros im Osten. In zwei schmalen Streifen sind Flure, Garderoben,
Lagerräume und Sanitärräume versteckt – einer raumhaltigen Wand
gleich. Auf der Westseite trennt eine solche die Trauerfeiern von
den Geräuschen der Verbrennungskammern und des
Luftreinigungssystems. Auf der anderen Seite können in diesem
Bereich vom Foyer kommend Jacken und Mäntel abgelegt werden, bevor
einer der Säle betreten wird. Sie bieten 270 und 170 Personen
Platz. Eine mobile Trennwand ermöglicht sie zusammenzuschalten oder
zu trennen, wenn mehrere Zeremonien gleichzeitig
stattfinden.
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Stringente Konstruktion
Der Grundrissorganisation folgend, sind die in Längsrichtung
verlaufenden Wände als Betonschotten ausgebildet. Querwände in den
raumhaltigen Wänden und im technischen Bereich sowie ein hoher
Unterzug in der Trauerhalle steifen die Konstruktion aus. Die
Schotten sind unterschiedlich lang, sodass die Fassade abgestuft
ist. Einige der südwestlichen Räume sind angeschnitten, um Platz zu
lassen für die Kolonnade. Im Osten sticht ein halbkreisförmiges
Volumen mit Büroräumen und einem schmalen Lichthof aus dem
ansonsten rechteckigen Grundriss heraus. An diesen Stellen, genauso
wie zwischen den Schottenenden, ist die Fassade transparent und
zweischichtig: Durch innenliegende Glasfenster und vorgehängte,
perforierte Aluminium-Wellbleche ist schemenhaft die umgebende
Landschaft erkennbar. Zur Verbesserung der Raumakustik in den
Trauersälen sind alle Inneneinrichtungen und Möbel rund um die
nackten Betonwandflächen mit speziellen Wolltextilpolstern zu
verkleidet.
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Beton: Pigmentiert und gespritzt
Die Wände, die
Stützen und das Dach der Stahlbeton-Konstruktion wurden allesamt
vor Ort erstellt. Das Material ist innen wie außen präsent. An den
Sichtbetonwänden und -decken ist immer noch die Holzstruktur der
Schalung sichtbar. Anders bei den Böden: In den
Technikzonen enthält die oberste Betonschicht ein lehmfarbenes
Pigment, das einen Bezug zur umgebenden Landschaft herstellen soll.
Hingegen wurde in den öffentlichen Bereichen des Gebäudes –
etwa in den beiden Trauersälen und im Foyer – Stäbchenparkett
verlegt.
Um die Dachskulpturen zu gießen, fertigte das Baustellenpersonal
spezielle Unterkonstruktionen aus Holz an, die als Basis für die
die Schalbretter dienten. Die fertig ausgeschalten Betonformen
wurden innen mit hellem Akustikschaum ausgekleidet. Außen wurde
zunächst eine Dämmschicht aufgetragen; anschließend erhielten die
Dachskulpturen ihre anthrazitfarbene Spritzbeton-Oberfläche. Dazu
wird der Beton mit einer Spritzdüse lagenweise flächig aufgetragen.
Der hohe Druck verdichtet das Stoffgemisch gleichzeitig.
-ml
Bautafel
Architektur: OFFICE Kersten Geers David Van Severen, Brüssel; Richard Venlet, Brüssel
Beteiligte: Util Struktuurstudies, Brüssel-Schaarbeek (Statik); HP engineers, Gent (technische Gebäudeausrüstung); Bureau Bas Smets, Brüssel (Landschaftsarchitektur); Braet, Wielsbeke (Generaluntenehmer)
Bauherr/in: Opdrachthoudende Vereniging voor Crematoriumbeheer in het arrondissement Oostende (OVCO)
Fertigstellung: 2021
Standort: Ostende, Belgien
Bildnachweis: Bas Princen, Rotterdam; OFFICE Kersten Geers David Van Severen, Brüssel
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