Baubotanik

Die Idee der Baubotanik ist ein innovativer Ansatz der Architektur, bei der Bäume als lebende Konstruktionselemente eingesetzt und so mit technischen Bauteilen verbunden werden, dass sie zu einer pflanzlich-technischen Struktur verwachsen und in einer symbiotischen Verbindung zu einem Bauwerk verschmelzen. Der Begriff setzt sich aus den Wörtern Bau (für Bauwesen) und Botanik (für Pflanzenkunde) zusammen und beschreibt die Verbindung zwischen menschlicher Konstruktion und biologischem Wachstum.

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Konzept und Grundprinzipien

Das Konzepte dieser Bauweise basiert auf botanischen Grundlagen und folgt den Wachstumsregeln der Pflanzen. Die einzelnen Pflanzen verbinden sich im Laufe der Zeit zu einem neuen, größeren Gesamtorganismus, gleichzeitig um- und durchwachsen sie die konstruktiven Bauelemente. Im Ergebnis entsteht ein sich immer weiterentwickelndes bzw. -wachsendes Bauwerk aus lebenden und nicht-lebenden Bestandteilen.

Historische Einflüsse

Baubotanik ist keineswegs eine neue Idee, sondern greift auf historische Vorbilder zurück. Beispiele wie die lebenden Brücken des Volks der Khasi im indischen Regenwald und die Tanzlinden zeugen von einer langen Tradition, bei der Pflanzen in Architektur und Konstruktion einbezogen werden. Die Brücken der Khasi werden allein von einem Geflecht sorgfältig von Hand verwobener Wurzeln getragen. Die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen erschließen abgelegene Täler und Schluchten im nordindischen Meghalaya-Plateau. Sie bestehen aus den Luftwurzeln des Gummibaums Ficus elastica und erreichen Längen von bis zu 50 Metern. In Bezug auf Stabilität und Lebensdauer übertreffen sie Konstruktionen aus Stahl und Beton. Bis heute wendet der indigene Volksstamm der Khasi diese Bautechnik an.

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Tanzlinden

Ein weiteres Beispiel sind die Tanzlinden – eine besondere Form von Baumhäusern. Sie waren vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert in vielen Teilen Deutschlands und darüber hinaus verbreitet und haben sich teilweise bis heute erhalten. Bei den Tanzlinden verschmelzen Baum und Haus zu einer räumlichen Einheit, indem die Äste mit aufwendigen gärtnerischen Methoden so geformt wurden, dass im Inneren der Baumkrone ein grüner Raum entstand, der als Tanzsaal genutzt wurde.

Die historischen Vorbilder demonstrieren eindrucksvoll die Anpassungsfähigkeit von Pflanzen in unterschiedlichen Baustrukturen und dienen Baubotaniker*innen heute als Inspirationsquelle. Während die lebenden Brücken für eine archaische Methode stehen, mit der aus Baumwurzeln Konstruktionen von beeindruckender Größe und Tragfähigkeit geschaffen werden, ist der Ansatz bei den Tanzlinden ein architektonisch-gärtnerischer, der darauf abzielt, Räume mit besonderer Aufenthaltsqualität zu erschaffen.

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Nachhaltigkeit und ökologischer Nutzen

Die Baubotanik reagiert auf das wachsende Bedürfnis nach nachhaltigeren Baupraktiken, die die Auswirkungen auf die Umwelt minimieren. Baubotanische Bauwerke können sich selbst erhalten und reparieren, das Mikroklima ihrer unmittelbaren Umwelt verbessern und zum Habitat für Tiere und Menschen werden. Gleichzeitig zeigen sie, wie natürliche Prozesse zur Verbesserung des Bauwesens genutzt werden können.

Der Nutzen der Baubotanik kommt insbesondere im städtischen Umfeld mit zunehmender Flächenversiegelung zum Tragen. Bäume und andere Pflanzen spenden Schatten und verringern durch Verdunstungskühlung die Entstehung von Hitzeinseln, verbessern durch Feinstaubbindung die Luftqualität und fördern die Biodiversität. Ferdinand Ludwig erklärt: „In urbanen Gebieten sind beträchtliche Flächen mit Beton, Stein und Asphalt bedeckt. Diese Materialien absorbieren Hitze bei höheren Temperaturen rasch, was zu Hitzestress bei Menschen und Tieren in den Städten führt.“ Er fügt hinzu, dass die Baubotanik keine zusätzliche Fläche für Pflanzen benötigt, da sie integraler Bestandteil der Bauwerke sind.

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Baubotanik in der Gegenwart

Die Entwicklung der Baubotanik begann im Jahr 2007 am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart als fächer- und institutionsübergreifendes Netzwerk. Bei dem von Ferdinand Ludwig initiierten Forschungs- und Arbeitsgebiet fließen naturwissenschaftlich-botanische, architektonisch konzeptionelle und gartenbaulich-praktische Ansätze zusammen. Der Architekt und Professor Ludwig beschreibt das Studiengebiet so: „Baubotanik nähert sich dem Baum technisch und der Architektur biologisch, wodurch wir das Verhältnis von Natur und Architektur auf neue Weise erforschen können.“

Die von Ludwig und seinem Büro OLA Office for Living Architecture geplanten Bauwerke sind in der Regel so konzipiert, dass sie anfangs von Hilfskonstruktionen stabilisiert werden. Im Verlauf des Wachstums übernehmen die Bäume bzw. Pflanzen immer mehr die Funktionen der Hilfsstrukturen und ersetzen sie schließlich. So sind die Pflanzen nicht nur dekorative Elemente, sondern integraler Bestandteil der Konstruktion. Das wird deutlich am Beispiel des baubotanischen Stegs, der 2005 als Versuchs- und Demonstrationsbauwerk von Mitgliedern des Forschungsgebiets Baubotanik in einem ehemaligen Moorgebiet nahe des Bodensees realisiert wurde. Anstelle von Stahlstützen übernehmen Weidenbündel die Haupttragfunktion des Bauwerks. Die Weidenstützen tragen den Stegboden sowie ein Edelstahlrohr, das als Handlauf dient.

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Baubotanischer Steg

Der baubotanische Steg verändert sich mit den Jahreszeiten: Im Frühling erwachen die Weiden mit zartem Austrieb, im Sommer bilden sie einen dichten grünen Raum, im Herbst verfärbt sich das Laub und im Winter wird nach dem Laubfall die geometrische Konstruktion wieder sichtbar. Im Laufe der Jahre gewinnt das Bauwerk an Masse und Stabilität, da viele Ruten aufgrund ihres Dickenwachstums zu einem gemeinsamen Stamm verwachsen, wobei die Grundgeometrie erhalten bleibt. Austriebe sprießen unregelmäßig in Form und Dichte empor und werden durch regelmäßigen Rückschnitt in die gewünschte Form gebracht. Das Ergebnis ist ein Bauwerk, das aus dem natürlichen Wachstum der Pflanzen, Umwelteinflüssen und gezielten Pflegemaßnahmen resultiert.

Pflanzenaddition für grüne Bauwerke in städtischen Räumen

Die Verschmelzung von Baum und Bauwerk veranschaulicht der baubotanische Steg eindrucksvoll. In dicht besiedelten städtischen Räumen wäre er aufgrund des Flächenbedarfs jedoch nicht umsetzbar. Die verwendeten Weidenarten würden im Schatten großer Gebäude verkümmern. Um dem städtischen Maßstab näher zu kommen und in kurzer Zeit grüne Bauwerke in der Größe ausgewachsener Bäume zu schaffen, wurde das Verfahren der Pflanzenaddition entwickelt. Dabei werden junge Pflanzen, die in speziellen Behältern wurzeln, im Raum angeordnet und miteinander verbunden. Die Pflanzen werden anfangs einzeln bewässert und genährt, temporäre Hilfsgerüste halten sie in Form. Im Verlauf der Entwicklung entsteht durch sekundäres Dickenwachstum eine selbsttragende und belastbare Struktur, wodurch die Hilfsgerüste überflüssig werden. Dies ermöglicht den Transport von Wasser, Nährstoffen und Assimilaten von den Wurzeln bis zu den Blättern. Die entstandene Pflanzenstruktur ist nun selbstversorgend und genauso robust wie ein natürlich gewachsener Baum.

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Platanenkubus

Ein Beispiel für die Pflanzenaddition ist der Platanenkubus, ein dreigeschossiges Bauwerk mit Abmessungen von etwa 10 x 10 x 10 Metern. Es entstand 2012 als langfristig angelegtes baubotanisch-städtebauliches Experiment für die Landesgartenschau in Nagold, wo es als Aussichtspunkt diente. Bei diesem Projekt bilden Platanen in Pflanzgefäßen grüne Wände, die einen nach oben offenen Raum umschließen; umlaufend sind Wartungsstege angeordnet. Im Laufe der Zeit verwachsen die Platanen miteinander und bilden ausreichend starke Stämme aus, sodass voraussichtlich 2030, schätzt Ferdinand Ludwig, die Pflanzgefäße entfernt und nicht mehr benötigte Stahlstützen abgebaut werden können.

Herausforderungen und Aspekte der Umsetzung

Die Umsetzung baubotanischer Projekte ist eine herausfordernde Aufgabe und erfordert neue Herangehensweisen beim Planen und Bauen. Das Wachstum von Pflanzen ist schwer vorhersehbar und benötigt kontinuierliche Anpassung und Pflege. Architekt*innen und Ingenieur*innen müssen das Pflanzenwachstum, die Tragfähigkeit und die strukturelle Integrität in Einklang bringen, um die Sicherheit und Funktionalität des Bauwerks zu gewährleisten. Ähnlich wie das Volk der Khasi im indischen Regenwald müssen Baubotaniker*innen ihre Strukturen mit Weitsicht planen. Denn anders als bei konventionellen Bauwerken kann das Wachstum eines Baumes nicht präzise vorhergesehen werden. Seine Form verändert sich in Abhängigkeit der vorherrschenden Umweltbedingungen ständig.

Bereits in der Entwurfsphase sind die Bedürfnisse der lebenden Organismen zu berücksichtigen. Dazu benötigen die Planenden ein umfassendes Wissen aus Botanik, Forstwirtschaft und Gartenbau. Faktoren wie das Wachstumspotenzial einer Pflanze und ihre kontrollierte Entwicklung müssen in die Planung einfließen. Auch das Absterben von Ästen, wie es in der Natur vorkommt, ist Teil des Bauprozesses. Ein baubotanisches Konstrukt erfordert eine kontinuierliche Pflege und Wartung.

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Zukunftsaussichten und Fazit

Die Baubotanik birgt Potenzial für die Entwicklung nachhaltiger Bauverfahren. Sie kann dazu beitragen, städtische Lebensräume zu optimieren, indem sie grüne Oasen schafft und gleichzeitig den städtischen Wärmeinseleffekt mindert. Trotz technischer und biologischer Herausforderungen bietet die Verbindung von Natur und Architektur vielversprechende Perspektiven für umweltfreundliche und kreative Bauwerke. Darüber hinaus fördert sie die Interaktion zwischen Mensch und Natur.

Zusammengefasst ist Baubotanik ein faszinierender Ansatz, der die Grenzen zwischen Architektur, Biologie und Technologie verschwimmen lässt. Die Integration lebender Pflanzen als Baumaterial führt zu einzigartigen, nachhaltigen und dynamischen Bauwerken, die sich im Einklang mit der Natur kontinuierlich weiterentwickeln.

Autorin: Anna-Maria Tiedemann

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