Spolie
Bedeutungsvolle Materialressource
Der Begriff Spolie kommt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt Beute. In der Antike wurden erbeutete Bauteile, beispielsweise Säulen, Supraporten, kostbare Natursteine, Fragmente mit Reliefs oder Inschriften, als Trophäen gut sichtbar in die Fassaden der eigenen Bauwerke integriert. Als narrative Zeichen sollten sie somit den jeweiligen Sieg oder Erfolg in einer Schlacht dauerhaft symbolisieren.
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Im Laufe der Zeit veränderte sich die Bedeutung von Spolien. Sie galten als zitathafte Verweise auf einen historischen Kontext oder als politische, künstlerische und kulturelle Statements. Im 16. Jahrhundert beschrieb der italienische Architekt und Theoretiker Sebastiano Serlio den seiner Meinung nach richtigen Umgang mit Spolien im siebten Teil seines Traktats Sieben Bücher zur Architektur. Fragmente und Versatzstücke älterer Bauten werden auch aus pragmatischen Gründen wiederverwendet, um im Sinne eines nachhaltigeren Bauens Materialien nicht zu verschwenden und um Geld zu sparen. Daher geraten Spolien heute wieder in den Fokus als wesentliche Elemente von Kreislaufwirtschaft, Urban Mining und Bauen mit und im Bestand.
Erinnernde Spolie
Als in den 1950er-Jahren ein neues Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße gebaut wurde, integrierten die beiden Architekten Dieter Knoblauch und Heinz Heise einen Teil des Eingangsportals der alten Synagoge von 1912. Dieses Portalfragment rahmt nun den neuen Eingang und erinnert somit bei jedem Betreten an die Synagoge, die vormals an dieser Stelle stand und in der Reichspogromnacht 1938 schwer beschädigt wurde.
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Zeichen globaler Vernetzung
Im Eingangsbereich des Chicago Tribune Towers, erbaut im Jahr 1925 im Gothic-Revival-Stil nach Plänen von Hood & Howell, sind zahlreiche Steinfragmente eingearbeitet und beschriftet, beispielsweise aus dem Taj Mahal, dem Parthenon, der Hagia Sophia, aus chinesischen Tempeln und dem Palast von Westminster. Diese Spolien sollten die weltweite Bedeutung der Zeitung Chicago Tribune versinnbildlichen. Nach dem Auszug des Medienhauses wird der Wolkenkratzer derzeit zu luxuriösen Eigentumswohnungen umgebaut. Die neugotischen Versatzstücke der Fassade, besonders die Spitzbogenfenster, Laibungsreliefs, Maßwerk und Gesimse, werden so selbst wiederum zu Spolien. Als originale historisierende Dekoration unterstreichen sie die Anmutung, in einer gotischen Kathedrale zu wohnen.
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Politische Reliquie
Das Eingangsportal des ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR ist ebenfalls eine Spolie. In das Gebäude, 1964 von Hans Bogatzky und Roland Korn entworfen, wurde das aus originalen Teilen zusammengesetzte Portal Nr. IV des Stadtschlosses eingefügt. Ausgerechnet dieses wurde vor der Sprengung des Schlosses im Jahr 1950 ausgewählt und demontiert, weil Karl Liebknecht 1918 auf dem Balkon des Portals gestanden haben soll, als er die die „Freie Sozialistische Republik Deutschlands“ ausrief. Diese Spolie ist also gleichzeitig eine politische Reliquie. Das Portal, 1713 nach Entwürfen von Johann Friedrich Eosander erbaut, wurde für die Rekonstruktion der Stadtschloss-Fassaden des Humboldt-Forums als Vorbild untersucht und 3D-gescannt. Heute wird das ehemalige Staatsratsgebäude von einer privaten Hochschule genutzt. - sj