Hoch über dem Meer gelegen, verbindet ein zeitgenössisches
Hofhaus Panoramablick und Introvertiertheit, innen und außen,
Privatsphäre und Gemeinschaft, Tradition und 21. Jahrhundert zu
einem individuellen Familiendomizil in Korea.
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Die Familie des koreanisch-stämmigen Architekten Je Ahn wünschte
sich ein Haus als Treffpunkt in ihrer alten Heimat. Denn während Je
Ahn zum Studium nach Europa ging und dann in London das
Architekturbüro Studio Weave gründete, lebt und arbeitet ein
anderer Teil der Familie mittlerweile in Hongkong. Gemeinsam mit
den Eltern suchten alle Familienmitglieder nach einem passenden
Ort, an dem alle Generationen zukünftig zusammenkommen können.
Fündig wurden sie in Seosaeng – wörtlich
übersetzt „der sich aufhellende Osten“. Der poetische
Name versinnbildlicht die Topographie der kleinen Ortschaft: Sie
liegt an einem Osthang in Richtung der aufgehenden Sonne mit weitem
Blick über die Koreastraße (auch Tsushimastraße genannt), der
Meeresenge zwischen Pazifik und Japanischem Meer (das in Südkorea
East Sea/Ostmeer und in Nordkorea East Sea of Korea/Koreanisches
Ostmeer genannt wird). Die nächstgelegene Hafenstadt Ulsan, zu
deren Verwaltungsgebiet Seosaeng gehört, liegt geographisch etwa in
der Mitte zwischen der südkoreanischen Hauptstadt Seoul und
Hiroshima in Japan.
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Hanok und Baesanimsu
Je Ahn ging die Aufgabe so konzeptionell wie sensibel an. Sehr
sorgfältig berücksichtigte er mehrere Parameter bei der Planung des
Hauses. Unter anderem verknüpfte er den abschüssigen Hang mit dem
unverstellten 180-Grad-Blick auf das Meer und den Verlauf der Sonne
mit einem uralten koreanischen Sujet, nämlich dem Hanok. Ein
Hanok ist ein Hofhaus, meist ebenerdig mit quadratischer Kubatur,
das sich nachweislich schon im 14. Jahrhundert finden lässt. Nach
traditionellen wie ideologisch-religiösen und mindestens ebenso
alten Prinzipien, dem Baesanimsu, soll ein solches Hofhaus
zwischen Berg und Wasser errichtet werden. So würde es sich in
Harmonie mit den Jahreszeiten verhalten, beispielsweise bei der
Schneeschmelze und den starken Stürmen im Winter, bei sommerlicher
Schwüle und während des Monsuns.
Der eingeschossige Neubau mit u-förmigem Grundriss ist
dreiteilig gliedert und besetzt eine Fläche von knapp 200
Quadratmetern. Der windgeschützte Hof ist nach Süden ausgerichtet,
um die Wärme der Sonne besonders im Winter einfangen zu können.
Hinsichtlich des Baesanimsu berücksichtigte Je Ahn die Lage
zwischen Hang und Meer, in dem er die drei Volumina des Hauses auf
drei Ebenen mit insgesamt 12 Stufen an das Gefälle des Hangs
anpasste. Der Zugang erfolgt von der hangabwärts liegenden Straße
über eine seitliche Treppe in den Hof. Eine Garage, Keller- und
Haustechnikräume sind unter der Eingangsebene in den Hang
eingeschoben. Heizung und Klimatisierung erfolgen über eine
Fußbodenheizung mit Wärmepumpe.
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Flexible Nutzungsorganisation
Aufgeteilt in gemeinschaftliche und eher diskret-private
Bereiche befinden sich auf der nach Osten und das Meer
ausgerichteten unteren Eingangsebene die Küche und ein großer Ess-
und Wohnraum. Die tiefen Sitznischen an der rückwärtigen Wand
können auch als Schlafplätze genutzt werden. Weitere Wohn-, Ruhe-,
Lese- und Schlafbereiche auf den anderen beiden Ebenen lassen sich
mit Schiebetüren flexibel untereinander aufteilen. Alle drei Ebenen
sind über den Hof verbunden. Durch die Höhenstaffelung bieten sich
vielseitige Durch- und Ausblicke.
Fenster
Art und Format der Fenster rahmen die Ausblicke in die Natur und
sind gleichzeitig auf die Erfordernisse der Räume und deren
Nutzungen sowie der Anordnung um den Hof zugeschnitten.
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Dreifachverglaste bodentiefe Aluminium-Schiebefenster im großen
Wohnraum geben den Blick nach Osten und zum Hof frei. Die
Panoramafenster lassen sich in voller Breite öffnen und ermöglichen
so die Erweiterung des Innenraumes nach außen. Überstehende
Pultdächer dienen als Regen- und Sonnenschutz. Die
Alu-Schiebefenster auf der gegenüberliegenden Seite sind zum Garten
und zum Hang im Westen ausgerichtet. Hier allerdings sind sie nicht
bodentief, sondern mit sehr breiten Fensterbrettern für ein
entspanntes Sitzen, Liegen, Dösen und Schlafen ausgestattet. Küche,
Speisekammer, Bäder und WCs haben kleinere Lochfenster oberhalb von
Sanitärobjekten und Arbeitsflächen oder sind in Einbaumöbel wie
Regale und Schränke integriert. Bei ihnen handelt es sich um
Dreh-Kipp-Fenster.
Material-, Konstruktions- und Farbkonzept
Laibungsverkleidungen und Einbaumöbel sind aus Lauan-Sperrholz
gefertigt, einem südostasiatischen Hartholz aus der Familie der
Shorea-Gewächse. Sichtbetonoberflächen und der Terrazzofußboden in
Hellgrau bilden zum Holz einen subtilen Kontrast, der sich im Hof
und am Hang mit grauen Findlingen in einem Steingarten mit Farnen,
Gräsern und immergrünen Sträuchern fortsetzt.
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Der Beton ist nicht nur ein visueller Hinweis auf die moderne
Interpretation des Hanok, sondern resultiert aus tragwerkstechnisch
zwingenden Anforderungen – auch wenn das Haus nur
eingeschossig ist. Die südkoreanische Region ist sowohl durch
Erdbeben als auch durch Taifune gefährdet. Diese tropischen
Wirbelstürme erreichen Windgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h und
führen zusätzlich zu extremen Regenfällen, wie zuletzt im September
2022 der Taifun Hinnamnor während der letzten Phase der
Bauarbeiten. Im Jahr 2018 wurde nur knapp 300 km von Ulsan entfernt
ein „nur“ als mittelschwer eingestuftes Erdbeben mit der Stärke 5,7
auf der internationalen Richterskala registriert. Ein
vergleichbares Beben mit der Stärke 5,5 im Jahr zuvor hatte
gravierende Schäden verursacht und mehr als 50 Menschen verletzt.
Im Januar 2022 wurde sogar eine Magnitude von 6,3 nahe Busan, der
zu Ulsan benachbarten Millionenstadt, gemessen. Die eurasische
Platte ist zweifellos in Bewegung und deshalb ist mit weiteren
Erdbeben zu rechnen.
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Die Konstruktion des Hauses besteht aus einem System aus
Stahlbeton-Rahmen zur erforderlichen hohen Steifigkeit, um
angesichts von Erdstößen Verformungen und gar Versagen von
tragenden Wänden und Decken zu verhindern. Aus Gründen der
Witterungsbeständigkeit wurde auf eine traditionelle Holzlattung
verzichtet, die regelmäßig imprägniert respektive alle paar Jahre
erneuert werden müsste. Stattdessen entschied sich der Architekt
für eine Verkleidung aus Betonpaneelen. Mit ihrer konkaven Wölbung
erzeugen sie ein vertikales Streifenmuster, das in der sommerlichen
Monsunzeit die Spuren des herablaufenden Regens nachzeichnet. Ihre
rötlich-lachsfarbene Einfärbung basiert auf den Farbtönen des
eisenoxidhaltigen Bodens und stellt das Haus visuell in Einklang
mit dem Hang. Zugleich schimmert die Einfärbung nuancenreich in den
rötlichen Strahlen der aufgehenden und untergehenden Sonne.
-sj
Video
Bautafel
Architektur: Studio Weave, London Projektbeteiligte: Architects Office DOMA, Ulsan, Korea (ausführende Architekten), Eun Structure (Tragwerksplanung), Jung-In Civil Structure (Haustechnik), Kum-Gang DNS (Elektro), Garden & Forest (Garten- und Landschaftsplanung) Bauherr: privat Fertigstellung: 2022 Standort: Ulsan, Korea Bildnachweis: Kyong Roh, Seoul
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