Mehr! Theater in Hamburg
Stahlkonstruktion in denkmalgeschützter Betonbogenhalle
Mit ihren weit gespannten Betonbögen und dem ikonischen Wellendach steht die Großmarkthalle im Hamburger Hafen unter Denkmalschutz. Zwischen 1958 und 1962 unter Leitung des Architekten Bernhard Hermkes errichtet, gilt sie als eines der letzten Beispiele experimenteller Spannbetonbauten in der Stadt. Ursprünglich diente sie als Erweiterung der nordwestlich gelegenen Deichtorhallen (erbaut um 1912). Während in diesen heute zeitgenössische Kunst zu besichtigen ist, wird die Großmarkthalle noch immer etwa ab Mitternacht mit frischem Obst, Gemüse und Blumen beliefert, das Händler in den frühen Morgenstunden einkaufen. Der Bedarf für diese Art Nutzung ist angesichts der Konzentration des Lebensmittelgeschäftes auf wenige Discounter- bzw. Supermarktketten und deren Großhandelslogistik jedoch deutlich gesunken und deshalb stimmte die Stadt im Jahr 2012 dem Um- und Ausbau eines Teilbereichs der rund 40.000 Quadratmeter umfassenden Halle zu einem vielfältig nutzbaren Aufführungsort zu. 2015 wurde das Mehr! Theater nach Plänen des Berliner Büros F101 Architekten im Mittelteil der Halle der fertiggestellt, dessen Betrieb sich nun im Wechsel mit dem Marktgeschehen vollzieht. Neben Konzerten jeglicher Musikrichtung sind hier Theater- und Musicalaufführungen, Boxkämpfe sowie alle möglichen Shows bzw. Events denkbar.
Gallerie
Die bauliche Struktur musste demontierbar sein (da der Mietvertrag auf 20 Jahre begrenzt ist) und enorme Flexibilität bieten. Der planerische und technische Aufwand, um den 21 Meter hohen Raum mit der filigranen Dachkonstruktion derart bespielen zu können, war groß. Die Architekten fügten eine frei stehende Stahlstruktur in den mittleren, nordwestlichen Gebäudeteil, der dem Stadtzentrum zugewandt ist und rund ein Neuntel der Großmarkthalle einnimmt. Dafür öffneten sie einen Teil der steinernen Eingangsfassade, deren untere Zone nun einladend verglast ist und das Foyer mit Tageslicht versorgt. Je nach Veranstaltung ist der Saal unterschiedlich auslegbar, bietet bis zu 2.400 Personen Sitz- oder auch 3.500 Personen Steh- und Sitzplätze. Die Bühnenfläche variiert zwischen 320 und 1.440 Quadratmetern, ist einseitig oder allseitig einsehbar und bis auf 20 Meter Höhe nutzbar.
In der engen Verflechtung von Industrie und Kultur – dem gleichsam fliegenden Wechsel zwischen Güterumschlag am frühen Morgen und Großveranstaltung am Nachmittag oder Abend – liegt eine interessante Chance, das Baudenkmal im Hafen für viele erlebbar zu machen und den urbanen Charakter zu wahren.
Bauphysik
Anders als in vielen Theatern gibt es hier
keine strikte Trennung zwischen Bühne und Publikum – die Technik
erstreckt sich fast komplett oberhalb des Veranstaltungssaals. Weil
die eindrucksvolle Bogenkonstruktion samt dünner Betonschale nicht
durch technisches Equipment belastet werden konnte, griff man auf
Konstruktionsmethoden aus dem Schiffsbau zurück und ummantelte zwei
der historischen Betonbögen durch solche aus Stahl (siehe Abb. 27).
Die Stahlbögen und die Rückwand des Theaters halten ein enormes
Technikgerüst mit Fachwerkträgern, formen einen ausgedehnten
Bühnenturm bzw. eine Reihe von Hebekränen. Bühne und
Zuschauertribüne werden eins und besetzen gemeinsam die alte
Großmarkthalle. Für die Konstruktion der Unterbühne wurden zentrale
Lüftungskanäle umgeleitet, die zur Entlüftung der Auspuffgase im
Untergeschoss dienen. Das unbeheizte Kellergeschoss erhielt auf der
Kellerseite eine mindestens 10 cm starke Dämmung. Das Bestandsdach
wurde mit mindestens 6 cm Dämmung auf der Außenseite
ertüchtigt.
Feuchteschutz
Der mit der Umnutzung verbundene Besucherstrom hat einen erhöhten
Feuchteeintrag zur Folge; die Nutzung als temporär beheiztes
Gebäude ist zudem nicht mit dem üblichen Nachweisverfahren (nach
DIN 4108-3 Wärmeschutz und Energie-Einsparung in Gebäuden –
Teil 3: Klimabedingter Feuchteschutz – Anforderungen,
Berechnungsverfahren und Hinweise für Planung und Ausführung)
bewertbar. Um feuchtebedingte Schäden zu vermeiden, wurde ein
bauphysikalisches Gutachten erstellt. Damit es an lokal niedrigeren
raumseitigen Oberflächentemperaturen von Wärmebrücken im Bereich der Dachkonstruktion
(mehrfachgekrümmte Stahlbetonschalen auf parabelförmigen
Bogenbindern, welche ebenfalls in die Außenwand einbinden), der
nach Westen orientierten Außenwand und dem neuen Eingang nicht zur
Bildung von Schimmelpilz bzw. Tauwasser
kommt, wurden anhand zwei- und dreidimensionaler
Wärmebrückenberechnungen Grenzraumfeuchten ermittelt und daraus
notwendige Lüftungsstrategien abgeleitet. Die Lüftungsanlage wird
(auch bei Nichtnutzung) u. a. anhand der Messdaten eines
Taupunktfühlers im Bereich der Dachverglasung (unterer Bereich) und
Feuchtefühlern an anderen kritischen Stellen gesteuert. Die neue
Eingangsverglasung ist als Pfosten-Riegel-Konstruktion dauerhaft
luftdicht an die Bestandskonstruktion angebunden.
Raumakustik
Zusätzliche raumakustische Maßnahmen waren an der Dachkonstruktion
aus statischen Gründen nicht möglich. Aufgrund der großen Raumhöhe
und der Dachform erreichen den Publikumsbereich keine nützlichen
Deckenreflexionen. Aus dem großen Raumvolumen (ca. 43.000 m³)
resultieren lange Laufwege des Schalls; dabei macht sich die
Dämpfung des Schalls bei der Ausbreitung in der Luft deutlich
bemerkbar. Durch die Luftabsorption wird der Schall vor allem im
hohen Frequenzbereich bedämpft. Das akustische Design der Halle
berücksichtigt dies durch den Einsatz von tief und mittelfrequent
abgestimmten Absorbern. Als Wandverkleidung wurden in
Zusammenarbeit mit den Architekten speziell abgestimmte
Schlitzabsorber (zementgebundene Spanplatten) entwickelt, die
sowohl die gestalterischen als auch die mechanischen Anforderungen
erfüllen. Speziell für die Eröffnungsveranstaltung mit dem London
Symphony Orchestra wurde ein sogenanntes Konzertzimmer für die
Bühne konzipiert, bestehend aus einer Rückwand, zwei Seitenwänden
und einem Dach über der Bühne. Die reflektierenden Flächen
unterstützen den Direktschall der Instrumente durch frühe
Schallreflexionen und sorgen auch auf der Bühne für eine bessere
Hörbarkeit der Instrumente untereinander. Alle Berechnungen
erfolgten mithilfe einer raumakustischen Software und anhand eines
3-D-Modells der Halle. Sämtlichen Oberflächen wurden die
schalltechnischen Eigenschaften wie der Absorptions- und der
Streugrad zugeordnet, die theoretischen Ergebnisse anschließend in
Labormessungen verifiziert. Für die Nutzung als Musicaltheater
wurde die Schallpegelverteilung im Publikumsbereich für eine
ausreichend dimensionierte Beschallungsanlage berechnet.
Brandschutz
Für den Theaterbau gilt die Versammlungsstättenverordnung. Im
Brandfall muss eine raucharme Schicht sichergestellt sein – d.h.
begehbare Ebenen müssen rauchfrei bleiben, um allen Personen die
sichere Flucht zu ermöglichen. Dies wurde über Brandsimulationen
zur Rauchausbreitung nachgewiesen. Auf der oberen Tribüne kommen
die (brandlastarm konzipierten) Polsterstühle recht nahe an die
Dachkonstruktion heran. Die Feuerwehr forderte auch dafür
Brandsimulationen, um sicherzugehen, dass eine kritische Temperatur
im Deckenbereich nicht überschritten wird. Oberhalb der Bühne ist
eine Sprühflutlöschanlage installiert, deren ständig offene
Löschdüsen bei Auslösen das Wasser sofort auf der gesamten Fläche
verteilen. Die Rettungswege führen über die Hauptfassade direkt ins
Freie. (us)
Bautafel
Architekten: F101 Architekten, Berlin
Projektbeteiligte: Helmut Wiemer Ingenieurgesellschaft für Bauwesen, Hamburg (Statik); Ingenieurbüro Prof. Dr. Hauser, Kassel (Bauphysik); Akustikbüro Krämer & Stegmaier, Berlin (Schallschutz, Emissionen und Raumakustik); Anja Beecken Architekten, Berlin (Wärmeschutz); hhp Berlin (Brandschutz), jack be nimble – De Schutter, Erlemann, Klees & Partner, Berlin (Beleuchtung)
Bauherr: Mehr! Entertainment, Hamburg
Fertigstellung: 2015
Standort: Hamburger Großmarkt, 20097 Hamburg
Bildnachweis: Andreas Meichsner, Benjamin Busch, F101 Architekten, Berlin