Taminabrücke im Kanton St. Gallen
Auf Freivorbau folgt Lehrgerüst
Spätestens seit der römischen Antike erleichtern Brücken über Schluchten und Flüsse das Reisen, den Handel und Truppenbewegungen. Schluchten und Flüsse gibt es in der Schweiz reichlich – entsprechend hoch ist die Zahl der Brückenbauten im Alpenstaat. Und dennoch ist ihr Bau immer eine ingenieurtechnische Herausforderung, denn keine Brücke gleicht der anderen. Und dank steten Fortschritts werden Längen-, Höhen- oder Spannweitenrekorde oft gebrochen. Auch mit der Taminabrücke im Kanton St. Gallen ist das wieder einmal gelungen. Als größte Bogenbrücke der Schweiz erregt das vom Stuttgarter Büro Leonhardt, Andrä und Partner geplante Bauwerk Aufsehen. Noch mehr als das Superlativ beeindruckt aber die schiere Schönheit des flachen Bogenschlags. Beides überzeugte auch die Jury eines Wettbewerbs, aus dem die Stuttgarter Architekten mit ihrem Entwurf als Sieger hervorgegangen waren.
Gallerie
Die zweispurige Brücke schafft eine neue Verbindung zwischen den Orten Valens und Pfäfers oberhalb von Bad Ragaz. Ein 417 Meter langer, 200 Meter hoher Brückenneubau mit 260 Meter Bogenspannweite, bestehend aus 14.000 Kubikmeter Ortbeton und 3.000 Tonnen Bewehrung, um zwei 500-Seelen-Dörfer miteinander zu verbinden? Die Gründe für ihren Bau liegen woanders: Das Taminatal ist erdrutschgefährdet, das Passieren der ehemaligen Valenser Talstraße war deshalb nicht ungefährlich. Die neue sichere Talquerung kommt den Dorfbewohnern ebenso zugute wie den nahe gelegenen Kliniken Valens, die zu den wichtigsten Rehabilitationszentren der Schweiz gehören. Und auch für den Tourismus erhofft sich das Tiefbauamt einen belebenden Effekt durch das 56-Millionen-Franken-Projekt.
Gerüste und Schalungen
Die 11 m breite Trasse führt geradlinig über die Schlucht. Die
Landverbindungen im Bereich der Vorlandtragwerke beschreiben
hingegen eine Rechts- bzw. einer Linkskurve. Der Brückenaufbau
setzt sich zusammen aus einem Bogen, der über sechs radial
abgehende Stützpfeiler und den eigenen Scheitel den
darüberliegenden Überbau stützt. Aufgrund eines zu überbrückenden
Höhenunterschieds von 26 m hat der Trassenverlauf eine geringe
Neigung. Auf den Bogen wirkt sich das in Form einer leichten
Asymmetrie aus. Ausgeführt im Hohlkastenquerschnitt ist er auf
Pfäferser Seite 9 m breit und 4 m hoch, auf Valenser Seite 7 m
breit und 3,50 m hoch. Bis zum Scheitel verjüngt sich der Bogen auf
5 m Breite und 2 m Höhe.
Der Brückenbogen wurde im Freivorbauverfahren errichtet. Dabei
„wächst" das Bauteil von beiden Seiten, indem kurze Bogensegmente
mittels eines Freivorbaugerüsts armiert, bewehrt und gegossen
werden. Nachdem ein Segment ausgehärtet ist, wandert das Gerüst
daran weiter, um den nächsten Abschnitt vorzubereiten. Im Fall der
Taminabrücke kam ein Verfahren zum Einsatz, bei dem die fertig
betonierten, 5 m langen Bogenelemente während der Bauphase mittels
Hilfspylonen und Rückhalteseilen gehalten wurden. Sobald der Bogen
geschlossen war, wurden die Hilfsgerüste wieder abgebaut, während
auf dem Bogen konventionelle Traggerüste
(früher Lehrgerüste genannt) zum Betonieren des Brückenüberbaus
positioniert wurden.
Zwei Turmdrehkräne, die jeweils knapp hinter den Kämpferstützen
aufgestellt wurden, ermöglichten den Auf- und Abbau der
Hilfspylonen und der Freivorbaugerüste sowie das Betonieren der
Vorlandtragwerke. Zudem unterstützten sie die Konstruktion der
ersten bzw. äußeren Abschnitte von Bogen und Überbau. Für die
mittleren Bogen- bzw. Überbauabschnitte, die außerhalb des
Drehkreises der Turmdrehkräne lagen, wurde ein Kabelkran über die
gesamte Länge der Brücke gespannt.
Für die Konstruktion der Taminabrücke kamen also mit dem
Freivorbaugerüst und den Traggerüsten im Wesentlichen zwei
Verfahren zur Anwendung, teilweise zeitgleich. Ein ursprünglicher
Plan sah einen Bauverlauf vor, bei dem das Freivorbaugerüst nach
Vollendung des Bogens auch für den Bau des Überbaus verwendet
werden sollte. Der Vorschlag der Diversifizierung wurde durch die
Arbeitsgemeinschaft Taminabrücke eingebracht, die dadurch den
Zuschlag als ausführendes Bauunternehmen erhielt.
Die Modifizierungen durch die Arge bezogen sich insbesondere auf
die Hilfspylonen. Sie wurden über den Kämpferfundamenten
installiert und damit enger zusammenstehend als – wie zuvor
vorgesehen – auf den Vorlandtragwerken. So konnte Zeit gespart
werden, denn obwohl sie noch einmal gewachsen sind (auf 107 bzw. 78
m) konnten die Pylone bereits aufgebaut werden, währen die
Vorlandtragwerke noch gegossen wurden. Die Seile sind durch die
größere Höhe der Pylone teils steiler und konnten daher weniger
stark sein. Durch die Aufteilung der Rückhalteseilführungen auf in
mehreren Ebenen angeordneten Querträgern, anstatt nur auf einen
einzigen ganz oben am Pylon, konnte jedes zweite Bogenelement durch
Seile gesichert werden, anstatt wie zuvor geplant, nur jedes
vierte. Dies führte ebenfalls zu geringerer Last, da sich die Länge
der zwischen zwei Seilspannungsvorgängen auskragenden Bogensegmente
halbierte. Insgesamt 60 Tonnen Kabelage konnten auf diese Weise
eingespart werden. Zudem beschleunigte sich der Baufortschritt
erneut, denn der Bogen konnte bereits gegossen werden, während die
Hilfspylonen noch in die Höhe wuchsen.
Das Freivorbaugerüst war an der Bogenunterseite angebracht und bestand aus drei Fachwerkbindern, die aufgrund der sich verjüngenden Form des Bogens flexibel verstellbar waren. Die Kabel bestanden aus 7 bis 24 verkordelten Einzellitzen mit einer Zugfestigkeit von jeweils 1.860 N/mm2. Je weiter der Brückenbau fortschritt, desto zugkräftiger wurden die Seile. Die maximale Haltekraft lag bei 225 Tonnen.
Neue Vorberechnungen ergaben, dass der Bogen stabil genug werden würde, um ein Traggerüst abzustützen, das zum Betonieren des Überbaus dienen sollte. Vorteil der Verwendung eines auf dem Bogen abgestützten Traggerüsts anstelle der Weiterverwendung des Freivorbaugerüsts war, dass der Überbau mitsamt Fahrbahnplatte in größeren Einheiten gegossen werden konnte. Anstatt kleiner Elemente von 5 m pro Woche konnten nun 30 bis 40 m lange Abschnitte an einem Stück gegossen werden – in insgesamt nur fünf Schritten. Zudem verleiht die geringere Fugenanzahl der Brücke eine höhere Stabilität. Durch die Modifizierungsmaßnahmen konnte bei gleichem Budget die Bauzeit von fünf auf vier Jahre verkürzt werden.
Bautafel
Architekten: Leonhardt, Andrä und Partner, Stuttgart
Projektbeteiligte: Dsp Ingenieure & Planer, Greifensee (Technische Beratung / Bauleitung); Smoltczyk & Partner, Stuttgart; Arge Taminabrücke aus Strabag, Köln, J. Erni, Flims und Meisterbau, Trübbach (Bauausführung); Höltschi & Schurter, Zürich (Bauhilfsmaßnahmen); LGB – Lehrgerüstbau, Meiningen (Gerüstbau)
Bauherr: Tiefbauamt St. Gallen
Fertigstellung: 2016
Standort: Büngertliweg, 7312 Pfäfers, Schweiz
Bildnachweis: Bastian Kratzke, Stuttgart; Kanton St. Gallen; Leonhardt, Andrä und Partner, Stuttgart; LGB Lehrgerüstbau, Meiningen; Friedrich Böhringer, Dornbirn und Arge Taminabrücke