120 Meter Länge misst das erhoffte neue Wahrzeichen von Aarau im
Schweizer Kanton Aargau. Die skulpturale Brücke über den Fluss Aare
ersetzt eine Stahlbetonbrücke von 1949, die wiederum anstelle einer
historischen Kettenbrücke von 1848 errichtet worden war. Die
jüngste Stahlbetonkonstruktion mit Sichtbetonoberfläche und
markantem Schalungsbild folgt dem Entwurf der Basler Architekten
Christ & Gantenbein.
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Der Historie verpflichtet, an moderne Anforderungen
angepasst Die Vorgängerbauten waren nicht denkmalgeschützt,
die Position der Flussquerung jedoch schon. So musste die neue
Aarebrücke exakt an der Stelle errichtet werden, an der bereits
seit Jahrhunderten eine Passage nachgewiesen war. Der Zustand der
Stahlbetonbrücke von 1949 hatte sich zuletzt gravierend
verschlechtert, eine Sanierung sei nicht rentabel gewesen. 2014
stimmte die Bevölkerung den Neubauplänen zu, wodurch jedoch
zunächst der Bau einer Hilfsbrücke und der Rückbau der
Bestandskonstruktion erforderlich waren.
Infolge eines offenen, einstufigen Wettbewerbs ging 2010 das
gemeinsam mit der Ingenieurgemeinschaft Pont Neuf
realisierte Konzept als Siegerprojekt hervor. Über insgesamt
fünf unterschiedlich weit gespannte Bögen erstreckt sich nun das
Bauwerk, das sich laut Wettbewerbsjury am besten in den Uferraum
der Aare und in das Ortsbild von Aarau mit seiner historischen
Altstadt einbettet. Zu den Vorgaben gehörte, dass die Position der
im Fluss befindlichen Pfeiler jenen der vorangegangenen Brücke
entsprechen und die Fundamente wiederverwendet werden. Jedoch
erfüllten die Senkkästen und Fundamente die statischen
Anforderungen des Neubaus nicht, sodass die Aarebrücke neu
gegründet werden musste. Entsprechend der früheren
Flusspfeilerposition ergaben sich für die drei mittleren Bögen die
vorherigen Spannweiten von 29 Meter, 44 Meter und 29 Meter. Zwei
schmale Bögen überspannen außerdem die unterquerenden Uferwege auf
beiden Seiten des Flusses.
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Komplexe Konstruktion, fugenloses Erscheinungsbild Für
die Widerlager wurden neue Stahlbetonfundamente mit Bohrpfählen
ausgebildet. Die Kräfte werden über acht versteckte Gleitlager an
den Brückenenden abgeleitet. Die Bögen sind letztendlich an den
Pfeilerköpfen und den Widerlagern eingespannt, sodass die Brücke
rein konstruktiv einem Durchlaufträger auf Stützen entspricht. Um
Gewicht und Material einzusparen, wurden die Bereiche oberhalb der
Pfeiler und Widerlager als Hohlkästen ausgebildet. Die
Seitenflanken verdecken die eigentliche Bogenkonstruktion. Somit
besticht die Aarebrücke durch ihr monolithisches Erscheinungsbild
und vermittelt den Eindruck einer traditionellen
Segmentbogenbrücke, die um technische Komplexität und
zeitgenössische Elemente mit gestalterischer Raffinesse ergänzt
wurde.
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Eines dieser gestalterischen Details zeigt sich in der Schräg-
und Seitenansicht der insgesamt vier Fluss- und Seitenpfeiler.
Diese weisen jeweils einen großen elliptischen Ausschnitt auf, die
den Blick von den Uferwegen auf die gegenüberliegenden Seiten sowie
auf das Wasser inszenieren. Gleichzeitig lösen die Aussparungen die
Massivität der Konstruktion filigran auf und verhelfen dem Bauwerk
zu seiner einzigartigen Geometrie. Dem gewünschten Effekt einer
Konstruktion aus einem Guss entsprach die ausschließliche
Verwendung des Materials Sichtbeton.
Einbettung in den städtebaulichen Kontext Die
Auslastung des Infrastrukturbauwerks, das eine Direktverbindung in
die Altstadt von Aarau darstellt, beträgt mittlerweile 22.000
Fahrzeuge und 700 Busse täglich. 17,55 Meter misst die Brücke an
ihrer breitesten Stelle. Der Verkehr teilt sich auf 3 Meter breite
Fahrspuren für den motorisierten Verkehr, zwei 1,5 Meter breite
Radwege sowie zwei Gehwege auf.
Das Projekt umfasste auch die weitere Einbindung in den
städtebaulichen Kontext sowie die Neugestaltung der Uferbereiche zu
attraktiven öffentlichen Räumen. So geht das Brückenbauwerk optisch
nahtlos in die neuen Ufermauern über und schafft eine bessere
Anbindung der einzelnen Verkehrswege in die Stadt, sodass die
Brücke als Portal zur Altstadt gelesen werden kann. Auf der
Südseite erhielt die Uferpromenade eine Aufwertung mit
Sitzgelegenheiten sowie Baumbepflanzungen. Am nördlichen Ufer, das
nun ebenfalls von Fuß- und Radwegen gesäumt ist, wurden
Blumenwiesen angelegt.
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Ein technisch und logistisch anspruchsvolles
Gesamtprojekt Die Bauphase für den Ersatzneubau der alten
Kettenbrücke – der Name hatte sich auch für die Stahlbetonbrücke
von 1949 erhalten – dauerte knapp vier Jahre. Mitte 2019 erfolgte
zunächst der Baubeginn für eine 125 Meter lange Hilfsbrücke in
unmittelbarer Nähe, die den Verkehr der viel befahrenen
Kantonstraße zwischenzeitlich aufnahm.
Den Bau der Hilfsbrücke, den Rückbau der Kettenbrücke, den
besonders anspruchsvollen Spezialtiefbau im Fließgewässer sowie den
Neubau der Aarebrücke samt eines Lehrgerüsts, mithilfe dessen das
etappenweise Betonieren und Ausschalen des Oberbaus bewerkstelligt
werden konnte, übernahm die ARGE Kettenbrücke. Nach
Umleitung des Verkehrs erforderte die Bestandskonstruktion zunächst
das Einziehen von Querjochen, die als provisorische Abstützung
während des Abbruchs dienten. Dieser erfolgte anschließend
Plattenweise mithilfe von Spitzhammer und Abbruchzange. Spundwände
stellten die Baugrubenabschlüsse für Widerlager und
Pfeilerbaugruben dar. Gleichzeitig erfolgten die Rammarbeiten für
das Lehrgerüst, das als auf Stahlrohren fundierte Konstruktion mit
befahrbarem Boden über alle drei Brückenfelder reichte. Die neuen
Fundamente der Flusspfeiler wurden aus vorgefertigten
Bewehrungskörben und Unterwasserbeton errichtet.
Präzise geschalter Sichtbeton als Merkmal Auf dem
Lehrgerüstboden wurde ein Flächengerüst aufgebaut, mithilfe dessen
die Schalung und das Betonieren der Stahlbetonbögen
erfolgen konnte. Der Großteil der Schalungselemente wurde mithilfe
eines 3D-Modells geplant und vorgefertigt. Das präzise vorgegebene
Schalungsbild – das zur charakteristischen Erscheinung der Brücke
beiträgt – galt es detailgetreu umzusetzen. Letztlich geht der
Projektname „Pont Neuf“ – also Neue Brücke – auf die 1985 vom
Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude verhüllte, berühmte
Namensschwester in Paris zurück. Der Faltenwurf der damaligen
textilen Hülle inspirierte zur speziellen Anordnung der sägerauen
Brettschalung in Aarau.
Im Gesamten bilden Pfeiler, Bögen, Seitenflanken und Brüstungen
einen einheitlichen, fugenlosen Baukörper aus. Nach Sichtung
zahlreicher Farbmuster fiel die Wahl auf einen braun-gelben Farbton
für den pigmentierten Sichtbeton, der wiederum je nach
Lichtverhältnissen Bezüge zur steinernen, umgebenden Bebauung
herstellt. -sab
Architektur: Christ & Gantenbein, Basel Projektbeteiligte: Ingenieurgemeinschaft Pont Neuf bestehend aus WMM Ingenieure, Münchenstein und Henauer Gugler, Zürich (Gesamtleitung); ARGE Kettenbrücke bestehend aus Implenia Schweiz, Aarau, Meier + Jäggi, Zofingen und Rothpletz Lienhard + Cie, Aarau (Rückbau Bestandsbrücke, Ausführung Hilfsbrücke und Realisierung Ersatzneubau inkl. Betonarbeiten und Lehrgerüst); August + Margrith Künzel Landschaftsarchitekten, Binningen (Landschaftsarchitektur) Bauherr*in: Kanton Aargau, Departement Bau, Verkehr und Umwelt, Abteilung Tiefbau, Aarau Standort: Küttigerstrasse, 5000 Aarau, Schweiz Fertigstellung: 2023 Bildnachweis: Stefano Graziani
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