Wohnhochhaus De Voortuinen in Amsterdam
Metamorphose eines 1960er-Jahre Bankgebäudes
In einer Zeit, in der Städte weltweit bestrebt sind, ihre Zentren zu revitalisieren und Bestandsgebäude für neue Nutzungen zu erschließen, ist der Umbau der 1969 fertiggestellten Filiale der ING Bank in Amsterdam ein bemerkenswertes Beispiel. Das ehemalige Bankgebäude durchlief eine beeindruckende Transformation, um Platz für moderne Wohnungen und eine neue Form von urbanem Leben zu schaffen. Die Entscheidung für die Umwandlung ehemaliger Büroflächen in Wohnraum ist ein wichtiger Schritt in Richtung Ressourcenschonung und einer nachhaltigeren Stadtentwicklung.
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Das De Voortuinen (zu deutsch: Die Vorgärten) genannte Gebäude liegt an der vierspurigen Verbindungsstraße nach Haarlem und ist Teil eines Masterplans des niederländischen Büros MVRDV für die Revitalisierung eines Areals mit insgesamt zwölf Gebäuden und knapp 750 Wohnungen.
Dezentrale Erschließung
Mit dem Umbau der ehemaligen Bankfiliale wurde das Amsterdamer Büro Elephant beauftragt. Es sah sich mit der Herausforderung konfrontiert, dass der mächtige, zentral in der Gebäudemitte gelegene Erschließungskern des Bürogebäudes knapp 40 Prozent der Geschossfläche vereinnahmte – und damit nur wenig Fläche für die Wohnungen zuließ. Der Plan des Architektenteams, eine „inside-out“-Lösung zu realisieren, stieß bei den Investoren zunächst auf Ablehnung, konnte schlussendlich durch die Flächengewinne dann aber doch überzeugen.
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Die Planung sah vor, den zentralen Erschließungskern als solchen aufzugeben und in Sanitär-, Technik- und Abstellbereiche umzufunktionieren. Vier dezentrale und auf vier Quadratmeter minimierte Aufzugsanlagen wurden stattdessen an den Gebäudeecken platziert. Diese erschließen jeweils nur zwei Wohneinheiten pro Etage und wirken so der Anonymität einer großen zentralen Lösung entgegen. Statt Treppenhäuser im klassischen Sinn gibt es Außentreppen auf den neu konstruierten, umlaufenden Balkonen des Hochhauses. Sie dienen sowohl der Geschosserschließung als auch als Fluchtwege und bilden sich als Zickzack-Muster auf den Fassaden ab. Das Gebäude wurde damit quasi von innen nach außen gestülpt.
Wohnraumvergrößerung nach außen
Insgesamt 94 Eigentumswohnungen mit Größen zwischen 33 und 153 Quadratmetern sind in dem Gebäude entstanden. Dazu kommen zwei über 300 Quadratmeter große Penthouses in zwei aufgestockten Geschossen sowie zwei Gewerbeeinheiten im Sockel des Hauses. Die Fassaden sind voll verglast. In den Wohngeschossen führen bodentiefe Fenster auf die umlaufenden Balkone. Die 2,70 Meter tiefen und sehr schlanken Balkonplatten aus ultrahochfestem Beton sind an Stahlkonsolen befestigt, die im bestehenden Betonskelett verankert wurden. Schallschutzverkleidungen an den Unterseiten dämpfen den Verkehrslärm der nahen Schnellstraße. Die Balkone sind Wohnraumvergrößerung, Flucht- und Rettungswege zugleich. Zudem sind sie mit insgesamt 122 Bäumen in versenkten Pflanzgefäßen bestückt, die an ein Bewässerungssystem angeschlossen sind. Noch sind die Bäume klein, in ein paar Jahren sollen sie dem Namen des Wohnhochhauses als Vorgärten alle Ehre machen.
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Brandschutzrechtliche Einstufung des Gebäudes
Analog zu deutschen Gesetzen und Verordnungen zu Brandschutzanforderungen wie der Musterbauordnung (MBO) bzw. den jeweiligen Landesbauordnungen (LBO), der Versammlungsstättenrichtlinie (VStättR) bzw. -verordnung (VStättVO), den Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) und dergleichen verfügt auch das niederländische Baurecht über entsprechende Regelungen – in erster Linie ist hier das Bouwbesluit von 2012 maßgeblich. Das Bouwbesluit ist das der deutschen Musterbauordnung entsprechende niederländische Gesetz über Bauvorschriften. Es enthält umfassende Anforderungen an den Brandschutz für Gebäude und regelt unter anderem die Anforderungen an Feuerwiderstand, Fluchtwege, Rauchabzugsanlagen, Brandschutztüren und -fenster sowie die Installation von Brandmeldeanlagen.
Flucht- und Rettungswege, Rauchabschnitte
Nach deutschem wie auch niederländischem Baurecht müssen Gebäude grundsätzlich auf zwei voneinander unabhängigen Wegen Fluchtmöglichkeiten im Brandfall bieten. Im Bestands-Bürogebäude war dies durch zwei voneinander getrennte Treppenhäuser aus Stahlbeton mit Schleuse gewährleistet; die Flurfläche war auf jeder Etage mittels Zwischenwänden und -türen in zwei separate Rauchabschnitte aufgeteilt. Bei Verrauchung eines Abschnitts oder Treppenraums stand so ein zweiter Rettungsweg zur Verfügung.
Durch das inside-out-Prinzip wurden nun die Aufzüge an den vier Gebäudeecken positioniert. Von den Aufzügen gelangt man in einen kleinen Vorraum, von dem direkt jeweils zwei Wohnungen pro Aufzug erschlossen werden. Die Aufzugsvorräume sind wie die Wohnungen nach außen voll verglast – und bieten im Brandfall die Möglichkeit der natürlichen Entrauchung.
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Fluchttreppen in offener Bauweise
Die neuen vorgehängten Balkone vergrößern nicht nur die
Wohnungen nach außen, vielmehr erfüllen sie auch wichtige Aspekte
des vorbeugenden Brandschutzes – und dies auf recht simple Art und
Weise. Auf innenliegende Fluchttreppenhäuser wurde verzichtet. Sie
hätten einen hohen Platzbedarf verursacht – auf Kosten der
verfügbaren Wohnfläche. Zudem wäre ihre Ausbildung aufwendig und
kostenintensiv. Denn Fluchttreppenhäuser müssen in der Regel aus
nichtbrennbaren Materialien hergestellt werden. Sie müssen außerdem
rauch- und feuerdicht sein, was meist durch vorgelagerte Schleusen
mit selbstschließenden sowie rauch- und feuerfesten
Brandschutztüren T-90 RS erreicht wird. Nun sind vier einläufige
und offene Treppen an den Außenseiten des Wohnhochhauses platziert
worden – je zwei Treppen auf jeder Längsseite des Gebäudes. Im
Brandfall bieten die umlaufenden Balkone verschiedene Flucht- und
Rettungsmöglichkeiten. Durch die offene Bauweise erübrigten sich
konstruktiv und technisch aufwendige und damit teure
Brandschutzlösungen.
Bautafel
Architekten: Elephant, Amsterdam
Projektbeteiligte: Menno Kooistra, Peter van Gelder, Glenn den Besten, Anna Zan, Carlotta Rabajoli, Wesley Leeman, Brenda Reid (Mitarbeiter); Pieters Bouwtechniek, Utrecht (Tragwerksplanung); DGMR, Den Haag (Bauphysik und Brandschutz); DWH, Amsterdam (Energieplanung und Haustechnik); Makers of Sustainable Spaces, Amsterdam (Freiflächenplanung)
Bauherr*in: HLW 506 b.v.; Kondor Wessels, Amsterdam
Fertigstellung: 2021
Standort: Haarlemmerweg 506, Amsterdam
Bildnachweis: Marcel van der Burg, Amsterdam; Crispijn van Sas
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