Vorgefertigte Holzbauteile um einen Kern aus Stahlbeton
Amsterdam verfügt über einige spektakuläre Bauten – mit dem
Wohnhochhaus HAUT nach Plänen von Team V Architectuur ist
eines der höchsten Holzhochhäuser weltweit hinzu gekommen. Am Ufer
der Amstel im südöstlichen Amstelkwartier bildet es mit
seinen 73 Metern Höhe eine weithin sichtbare Landmarke. Nicht nur
der Standort am Fluss mit einem vorgelagerten Yachthafen und
direkter Anbindung zum Park Somerlust ist beeindruckend.
Auch das Ziel des Planungsteams von Team V Architectuur,
Lingotto, Arup und JP van Eesteren war ehrgeizig: ein nachhaltiges
Holzhochhaus mit 21 Stockwerken. Das Projekt erfuhr internationale
Aufmerksamkeit und erhielt aufgrund der Kombination aus
Nachhaltigkeit und städtischer Verdichtung die
BREEAM-Klassifizierung „Hervorragend“.
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Keller, Sockel und Erschließungskern in Stahlbeton
Die trapezförmige Grundform des Hochhauses auf dreieckigem
Sockel ist in erster Linie durch den Grundstückszuschnitt bedingt.
Gegründet auf einem tiefen Pfahlsystem, bestehen lediglich
Kellergeschoss, Sockel und Erschließungskern aus Stahlbeton.
Tragende und aussteifende Bauteile wie Decken und Wände sind aus
vorgefertigten Holzbauteilen erstellt.
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Decken als Holz-Beton-Verbundsystem
Für die Decken wurde ein Holz-Beton-Verbundsystem gewählt:
Solche hybriden Bauteile kombinieren die Vorteile und Eigenschaften
beider Baustoffe hinsichtlich Schallschutz, Brandschutz und Statik.
Die Deckenelemente bestehen aus einer 160 Millimeter starken
Brettsperrholzplatte (BSP) und 80 Millimeter starkem Beton der Güte
C55/67. Die größten Elemente sind 5,90 x 3,05 Meter groß, das
kleinste ist dreieckig und misst 1,50 x 1,50 Meter.
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Tragstruktur aus BSP und BSH
Die tragende Wandstruktur besteht aus Brettsperrholzelementen
(BSP bzw. englisch CLT = Cross Laminated Timber), lastableitende
Pfeiler aus Brettschichtholz (BSH). Die Massivholzelemente wurden
industriell im Werk vorgefertigt: Neben möglichst geringen
Toleranzen der Bauteile bietet die industrielle Vorfertigung eine
materialoptimierte Produktion, minimiert also den Abfall, und – im
Vergleich zu einer konventionellen Bauweise – eine beschleunigte
Bauzeit.
Im Gegensatz zu Deutschlands Muster-Hochhaus-Richtlinie (MHHR)
gibt es in den Niederlanden keine Standardbauvorschriften für
Hochhäuser. Dies hatte einen immensen individuellen Planungsaufwand
zur Folge – auch und gerade weil das Hochhaus weitgehend aus dem
CO2-neutralen Baustoff Holz entstehen sollte. Nach
Angaben von Team V Architectuur bindet das Holzbauwerk mehr als
drei Millionen Kilogramm CO2.
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Wechselnd angeordnete Balkone
Die Kombination von Hybriddecken mit der innenliegenden
Tragstruktur ermöglicht, die Fassaden raumhoch zu verglasen und
Balkone freitragend zu konzipieren. Diese erscheinen nach dem
Zufallsprinzip angeordnet und kragen mal mehr und mal weniger aus.
Dadurch entsteht ein lebhaftes Erscheinungsbild mit einer aus jedem
Blickwinkel unterschiedlichen Fassade.
Das statische Konzept ermöglichte ein hohes Maß an
Individualisierung: Die CLT-Platten ließen sich bei der
Vorfertigung anpassen, um die Größe und Aufteilung der Wohnung zu
variieren, aber auch die Anzahl der Wohnungsetagen, die
Positionierung von Räumen doppelter Höhe sowie Galerien und
Balkone.
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Solarkollektoren und Speichersystem, Nistkästen und Gärten
Das Hochhaus ist ausgestattet mit 1.500 Quadratmetern
Sonnenkollektoren auf dem Dach und in der Fassade, einem
thermischen Energiespeichersystem, sensorgesteuerte Anlagen mit
Niedertemperatur-Unterböden für Heizung und Kühlung, Nistkästen für
Vögel und Fledermäuse, Ladestationen für Elektro-Sharing-Autos und
einem Dachgarten mit Regenwasserspeicher. Der Sockel beherbergt
einen Wintergarten für Urban Gardening und Farming. Neben dem
Gewächshaus finden sich ein Kindergarten und ein
„Innovationslabor“.
Brandschutzaspekte Hochhäuser sind zweifellos eine
besondere Herausforderung für Architekten und Brandschutzfachplaner
– insbesondere, wenn es sich bei der Tragstruktur um Holz und nicht
(wie üblich) um Stahlbeton handelt. Vor dieser Herausforderung
stand das renommierte und international agierende Ingenieurbüro
Arup. Die Tragstruktur sollte nicht nur aus Holz sein, sondern auf
Wunsch des Projektentwicklers und Investors auch weitgehend
sichtbar belassen werden. Die Ausführung der Erschließungskerne und
Fluchttreppenhäuser in Stahlbeton sowie eine Sprinkleranlage ließen sich aus Gründen des
Brandschutzes nicht umgehen. Zumal das Wohnhochhaus lediglich über
ein notwendiges Treppenhaus verfügt, welches dementsprechend als
Sicherheitstreppenhaus mit Schleusen ausgeführt wurde.
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Freiliegende Tragstruktur aus Holz Freiliegendes Holz
birgt zunächst einmal eine erhöhte Brandlast im
Vergleich zu den üblicherweise im Hochhausbereich eingesetzten
Baustoffen. Demensprechend verlangen die niederländischen
Brandschutzvorschriften, dass – je nach Höhe und Nutzung des
Gebäudes – Haupttragkonstruktionen bis zu 120 Minuten und
Brandabschnitte bis zu 60 Minuten feuerbeständig sein müssen.
Die Ingenieure entwickelten mittels Berechnungen und
Brandversuchen ein Gesamtkonzept: Die Decken als
Holz-Hybridelemente wurden mit einer Abbrandschicht des
Holzplattenteils geplant, um durch einen berechen- und damit
kontrollierbaren Abbrand die Feuerwiderstandsdauer zu erhöhen bzw.
zu erreichen. Dabei wird das Verfahren der Heißbemessung durchgeführt, bei der die
berechnete Abbrandschicht den Bauteilquerschnitten hinzugerechnet
wird. Entsprechend dimensioniert, gewährleistet Holz auch im
Brandfall die Tragfähigkeit über den erforderlichen Zeitraum.
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Feuerbeständigkeit von 60 auf 90 Minuten erhöht
In den Analysen des Büros Arup zeigte sich aber auch, dass eine
Feuerbeständigkeit der tragenden Wandbauteile von 60 Minuten nicht
ausreichen würde – diese musste auf 90 Minuten erhöht, die Bauteile
also zusätzlich geschützt werden. Unter verschiedenen Optionen
entschieden sich die Planer für eine Abdeckung der CLT-Wände mit
feuerfesten, silikat- und sulfatbasierten Platten. Die Platten
wurden in zwei Lagen auf einem Rahmen aus C- und U-Metallprofilen
auf die CLT-Wände und -Pfeiler montiert, der Zwischenbereich zu den
Holzwänden mit 40 mm Mineralwolle als zusätzliche Schutzschicht
gefüllt.
Brandversuche zeigten, dass bei dieser Konstruktion eine
Temperatur von 270°C über einen Zeitraum von 90 Minuten nicht
überschritten würde. Im Rahmen der Tests wurde auch der gewählte
Wandaufbau mit einer Bekleidung aus herkömmlichen Gipskartonplatten
verglichen. Das Ergebnis überzeugte: Während die Gipskartonplatten
abgebrannt waren und die CLT-Wand vollständig in Flammen stand,
waren die Brandschutzplatten nach 90 Minuten noch vollständig
intakt, die CLT-Wand unbeschädigt.
Bautafel
Architektur: Team V Architectuur, Amsterdam Projektbeteiligte: Arup Niederlande, Amsterdam (Generalstatik, Bauphysik, Brandschutz); J.P. van Eesteren B.V., Gouda (Generalunternehmer) Bauherr: Lingotto, Amsterdam (Projektentwicklung) Fertigstellung: 2022 Standort: Korte Ouderkerkerdijk 1, 1096 AC Amsterdam, Niederlande Bildnachweis: Jannes Linders, Rotterdam
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