Als Antwort auf dringend benötigte Wohnungen entstand nahe
Amsterdam auf einer künstlichen Insel ein „Wal“ mit einer Mischung
aus Miets- und Eigentumswohnungen. Jede Wohnung bietet mit
bodentiefen und raumhohen Fenstern einen weiten Blick auf Wasser
und Himmel. Gemeinschaftliche Räume wie eine Wohnzimmer-Lobby für
Yoga, gemeinschaftliches Filmegucken und Gärtnern erweitern das
soziale und nachhaltige Konzept.
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IJburg im IJsselmeer
IJburg ist ein künstliches aufgeschüttetes Archipel aus
inzwischen sieben Inseln im IJmeer, dem südlichen Zipfel des
IJsselmeers. Die Lage ist äußerst attraktiv, denn IJburg befindet
sich nur etwa 10 km östlich des historischen Amsterdamer Zentrums
mit dem Grachtengürtel. Die Fahrzeit mit dem Fahrrad bis zum
Hauptbahnhof Amsterdam Centraal beträgt knapp 30 Minuten, mit den
gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsmitteln sogar nur 20 Minuten.
Hotels in IJburg werben mit dem Panoramablick auf das IJsselmeer in
Kombination mit der Nähe zu den Hotspots im altehrwürdigen wie
legendären Zentrum. Sie sind bei Touristen zunehmend beliebter als
Hotels in eher gesichtslosen und daher weltweit austauschbaren
Bürovierteln wie beispielsweise Sloterdijk, das bislang als
kostengünstige Alternative zu Unterkünften im hochpreisigen
Grachtengürtel galt.
Landgewinnungsmaßnahme für Wohnungsbau
Die 1997 gestartete Landgewinnungsmaßnahme ist die erste im
Bereich des IJsselmeers seit der Trockenlegung der Polder aus der
Zeit der 1920er bis 1960er Jahre. Aus Sicht des Naturschutzes ist
diese aktuelle Landgewinnungsmaßnahme trotz des technologischen
Fortschritts nicht unumstritten, da negative Auswirkungen auf das
Ökosystem im sensiblen Bereich zwischen Land, Meer, Gezeiten,
Deichen und Binnensee befürchtet werden.
Doch wie zahlreiche Metropolen weltweit ist auch Amsterdam einem
enormen Druck ausgesetzt, bezahlbare Wohnungen zu schaffen und die
Wohnungsknappheit zu reduzieren. Auf diesen neu erzeugten Flächen
im IJmeer plant die Stadtverwaltung von Amsterdam deshalb dringend
benötigte Wohnungen für bis zu 50.000 Menschen.
Nachdem der Amsterdamer Projektentwickler und Investor
Amvest bereits im Stadtteil Noord beim Apartmenthaus The
Line erfolgreich mit Orange Architects
zusammengearbeitet hat, wurde in IJburg ihre Zusammenarbeit
wiederholt.
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273 Wohnungen in einem Wal namens Jonas
Das Haus in IJburg wurde Jonas getauft - eine Reminiszenz
an die Geschichte von Jonas und dem Wal im Alten Testament. Die
biblische Geschichte wird hier allerdings mit vertauschten Rollen
gespielt. Das Haus ähnelt tatsächlich einem dickbauchigen, riesigen
Wal. Mit einer Länge von etwa 140 Metern, eine Höhe von 25 Meter
und einer Breite von 35 Metern, scheint er auf der schmalen
Landzunge gestrandet zu sein.
Doch statt den einzelnen Jonas zu verschlingen und so vor dem
Ertrinken während eines von Gott als Strafe für seinen Ungehorsam
erzeugten Unwetters auf hoher See zu retten, bietet dieser Wal den
Bewohner*innen von 273 Wohnungen ein Zuhause.
Investor und Architekt*innen entwickelten für das Gebäude eine
Mischung aus 30 % Eigentums- und 70 % Mietwohnungen im
mittleren Preissegment. Die Wohnungstypen sind beispielsweise ein
Studio im Format S als erweiterte Einraum-Wohnung, ein Apartment M
mit offenem Küchen-Wohnbereich, Schlaf-, Arbeitszimmer und Balkon
oder ein Penthouse XL als Maisonette mit fünf Zimmern, Luftraum,
Galerie und Loggia. Durch raumhohe Fenster wirkt jede Wohnung
visuell weiter und bietet einen unverstellten Blick auf den
Binnenhafen sowie das IJmeer.
Im Sinne eines gemeinschaftlichen Wohnens sind die Wohnungen um
Gemeinschaftsräume erweitert. Die Bewohner*innen teilen sich
beispielsweise Gästewohnungen und Co-Working-Spaces als
gemeinschaftliche Arbeitszimmer, einen Yoga-Raum, einen Kino- und
Eventsaal, PKWs im Sinne von Car-Sharing sowie eine große Lobby mit
Kaffeeküche als Wohnzimmer. Die Wohnzimmer-Lobby ist zugleich der
Eingang von der Landseite aus.
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Fleute als Vorbild und konstruktives Prinzip
Orange Architects erläutert, dass ihnen bei der Lage des
Bauplatzes mitten im Wasser das Bild eines typischen
niederländischen Schiffs vor Augen schwebte. Das wäre dann eine
sogenannte Fleute, wie die niederländischen Handelsschiffe
aus dem Goldenen Zeitalter mit ihren drei Masten, dem bauchigen
Rumpf als komfortabel großem Laderaum und einem schmalen Deck
hießen. Dieser spezielle Schiffstyp sicherte lange Zeit die
Vorherrschaft der Niederländer im Ostasienhandel und pendelte
zwischen Amsterdam und Batavia, dem heutigen Jakarta, und weiteren
Häfen der niederländischen Ostindien-Kompanie.
Angesichts des friedlich bewohnbaren Wals in IJburg wirkt es wie
eine Ironie der Geschichte, dass sich aus diesen Fleuten die
Walfangschiffe entwickelten, die nicht unwesentlich zum Ausrotten
mehrerer Walarten beitrugen. Die Walfänger waren mit doppelten
Planken und Spanten besonders robust konstruiert.
Wie das Innere eines nunmehr parametrisch generierten
Schiffsbauchs, steifen sich die Wände und die Decke der Lobby aus
hölzernen Streben und Latten gegensätzlich aus. Sie wandeln sich
weiter zu einem Atrium, das an ein hohles Rückgrat über einem
imaginären Kiel erinnert. Über das 7-geschossige Atrium und einen
bis zur Dachterrasse ansteigenden Steg werden sämtliche Wohnungen
und weiteren Nutzungen erschlossen. Für diese hölzerne Konstruktion
wurde europäische Douglasie verwendet, also ein einheimisches Holz,
das auf eine jahrhundertealte Tradition als sehr hartes und
langlebiges Bauholz für Schiffs- wie Hausbau verweisen kann.
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Garten, Photovoltaik, TEO
Eine Dachterrasse bildet das oberste des mehrfach gestaffelten
Decks, auf dem eine Bar mit weitem Blick über das IJmeer zum
Zusammentreffen einlädt. Basierend auf der Planungsgrundlage eines
Gartenbaubüros soll hier gemeinschaftlich ein Garten angelegt und
gepflegt werden. Ein Wasserbassin rieselt über die
Atriumsverglasung und dient insbesondere im Sommer zur kühlenden
Klimatisierung. Die anderen Dachflächen tragen 850
Photovoltaikmodule, die wie die übrigen Haustechnik- und
Energiesysteme mit einer Regenwassersammlung für die
Toilettenspülungen sowie einem Energie- und Kühlkreislauf mit TEO
(Thermische Energie aus Oberflächenwasser) verknüpft sind.
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Haut und Schuppen
Das nachhaltige und ressourcenschonende Prinzip setzt sich in
der Fassade fort. Die vertikale und horizontale Staffelung der
verschiedenen Wohnungstypen erzeugt im Zusammenklang mit der
rhythmisch konvex geknickten Kubatur des „Wals“ ein leicht
unregelmäßiges Gitternetz aus Rahmen, die sich aus den Wänden und
Decken der raumhohen Fenster beziehungsweise Loggien bilden. Über
die Rahmen spannt sich eine geometrische Haut aus patiniertem,
dunklem Zink mit einer rautenförmigen Prägung. Sowohl die Farbe als
auch die Rauten wecken dabei Assoziationen an nasse Schuppen eines
Riesenfischs. Hier vermengen sich möglicherweise die biblische
Geschichte, Mythen, kunstgeschichtliche Bilder und die biologischen
Fakten. Wale haben als Säugetiere keine Fischschuppen, sondern eine
sehr glatte Haut, die ihnen das Gleiten durch das Wasser
erleichtert.
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Schiebefenster und Schiebetüren
Die Schiebetüren und -fenster aus Aluminium nehmen ebenso wie
die integrierten Sonnenschutzrollos diesen nahezu schwarz wirkenden
Farbton auf, während die Laibungen und Wandscheiben im Inneren der
Loggien mit Holzlatten verkleidet sind. Mit der verwendeten
Douglasie wird dadurch wiederum der Kontrast zwischen Außen- und
Innenraum betont. Die Schiebefenster und -türen sind eine
platzsparende Lösung für die Nutzung der Freisitze vor den
überwiegend minimierten Wohnbereichen. Die Fenster erfüllen
außerdem ihre ureigenste Aufgabe, nämlich die Erweiterung des
Innenraums in die Welt außerhalb der eigenen vier Wände.
Wasserlinie, Riff, Nistplätze
Im Sockelbereich, der von der Zinkfassade abgesetzt ist und eher
an die Wasserlinie von Schiffen erinnert, findet sich eine Reihung
von Lochfenstern zur Belichtung und Belüftung der Tiefgarage, der
Fahrradabstellräume sowie einer Anzahl von technischen und
organisatorischen Nebenräumen.
Eine Freitreppe führt hinab zum Wasser und zu ein paar Stegen
für Bootsanlegeplätze. Aus Rücksicht auf die tierischen Bewohner
des IJmeers wurden zudem Wandscheiben für zukünftige Muschelriffe
und Nistplätze für Schwalben eingeplant. In einem Patio, in dem ein
„Wald“ entstehen soll, wächst bereits eine Birke.
Jonas wurde als Zero-Energy-Haus und wegen der Verwendung von
recycelten Materialien wie beispielsweise dem CSC- (Concrete
Sustainability Council) zertifiziertem Beton u.a. mit dem BREEAM
Outstanding Award 2020 ausgezeichnet. -sj
Bautafel
Architektur: Orange Architects, Rotterdam Projektbeteiligte: ABT (Ingenieure), Felixx Landscape Architects, Rotterdam (Landschaftsarchitektur); SITE urban development (Quartiersentwicklung), Pubblik&Vos, Diemen (Innenarchitektur), Bureau Stadsnatuur, Rotterdam (Beratung Urbane Natur); JMJ Bouwmanagement, Den Haag (Bauberatungsunternehmen); SmitsRinsma, Zutphen (Ingenieure); Solarlux, Melle (Hersteller Glas-Faltwandsystem) Bauherr*in: Amvest, Amsterdam Standort: Krijn Taconiskade 1 - 567, Eva Besnyöstraat 1-9, Amsterdam, Niederlande Fertigstellung: 2023 Bildnachweis: Sebastian van Damme, Rotterdam; Mark Kuipers, Haarlem; Orange Architects, Rotterdam
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