Die Transformation eines ehemaligen Bettenhauses des Caritas
psychiatric center in der belgischen Stadt Melle zeigt nicht
nur eine sorgfältig durchdachte und fantasievolle Rettung von
materiellen Ressourcen, sondern auch eine architektonisch
geistreiche Anregung zu Kontemplation und Imagination.
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Psychiatrie
Melle ist eine Ortschaft in Ostflandern unweit von Gent und etwa
in der Mitte zwischen Brüssel, Antwerpen und Brügge. Um die
vorletzte Jahrhundertwende entstand hier das PC Caritas,
eine für damalige Zeiten innovative psychiatrische Klinik mit
ungefähr 14 Pavillons in einem weitläufigen Park. Der Abstand der
Bauten trug zur Einhaltung von Hygiene bei, zumal jeder einer
anderen medizinischen Aufgabe zugeordnet war. Die von allen
Pavillons unmittelbar zugängliche grüne Parklandschaft beruhigte
die Nerven aller und trug zur Genesung der Patient*innen bei.
Pavillonruine und partizipative Ideensammlung
Im Laufe der Zeit wurde die Pavillonstruktur zugunsten von
hochkomplex verdichteten Zweckbauten aufgegeben, die mit der
Weiterentwicklung von Krankenhauskonzepten und ihrer Organisation,
der Gesundheitsversorgung und Medizintechnik einhergingen. Etwa
seit den 1950er-Jahren wurden Kliniken weltweit in der Art von
Medizin-Fabriken geplant und gebaut.
Das Pavillon-Prinzip für Behandlungen, die das gesundheitliche
Wohlbefinden fördern, ging jedoch nicht verloren. Bis heute setzen
Wellness-Resorts und Auszeit-Retreats auf gesondert liegende
Kleinbauten für spezielle Anwendungen wie beispielsweise Yoga und
Meditation – und zwar oft in einem gepflegten grünen Umfeld. Auch
in der Klinik in Melle wurde das Potenzial der zwischenzeitlich
ungenutzten und brachliegenden Pavillons im Park
wiederentdeckt.
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Das damalige Bettenhaus „Sint Jozef“, ein eklektizistischer
zweigeschossiger Backsteinbau mit Risaliten, Zeltdachtürmchen,
Mansardendach und Treppengiebeln, stand aufgrund von Neubauten und
Umstrukturierungen leer. Typologisch ähnelt der Bau eher einer
Villa als einem Pavillon. Mit zerbrochenen und fehlenden Fenstern
und Türen, undichtem Dach, bröckelnden Innenverkleidungen und
schadhaften Bodenbelägen herrschte lange ein Zustand des Verfalls.
Der Abriss war beschlossen und wurde begonnen.
Ein Wechsel in der Klinikleitung führte zu einer Neubetrachtung
der durchaus pittoresken Ruine, zu einem Innehalten und schließlich
zu einem Architekturwettbewerb, um partizipativ zusammen mit dem
Klinikpersonal aber auch den Patient*innen Ideen für eine sinnvolle
Weiter- oder Wiedernutzung zu sammeln. In der auf Effektivität und
perfekt ablaufende Routinen organisierten Klinikwelt
kristallisierte sich der dringende Bedarf nach einem Freiraum
heraus – nach einem Ort für kontemplative Ruhe, zum Atemholen, aber
auch für einen Treffpunkt außerhalb von sterilen Wartezimmern und
Besprechungsräumen.
Strategie einer räumlichen Ambivalenz
Jan de Vylder, Inge Vinck und Jo Taillieu, Architekt*innen aus
Gent, entwickelten eine höchst ungewöhnliche Strategie. Weder
rekonstruierten sie den Pavillon nach denkmalgerechten Kriterien,
noch degradierten sie die Ruine zu einer hübschen Kulisse in grünem
Ambiente, außerdem verzichteten sie komplett auf übliche Standards
für Klinikbauten. Stattdessen arbeiteten sie mit einer offenen
Raumstruktur, die zwischen innen und außen, zwischen Park,
romantischer Ruinenarchitektur, begehbarer Skulptur-Installation
und Tiny-Haus-Zellen changiert, je nach Standpunkt oder vielmehr
Bedarf aller Beteiligten.
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Die Eingriffe in den Bestand reduzieren sich auf einige wenige
Interventionen. Ein neu eingefügtes, leuchtend grün lackiertes
Skelett aus Stahlträgern und -stützen sorgt als konstruktiv
notwendiger Einbau die Sicherung und Aussteifung der Außenwände und
Deckenanschlüsse, wird aber genauso architektonisch kommuniziert.
Außen an den Längsseiten der Villa wurden geometrisch streng
gerasterte und strahlend weiß lackierte Pergolen hinzugefügt, die
als Reminiszenz an die vergangene Zeit der Pavillons, auf
verschwundene Veranden und Wintergärten und deren fließenden
Übergang in den grünen Park verweisen.
Umgang mit Fenster- und Türöffnungen
Die hohlen Fenster- und Türöffnungen wurden teils leer gelassen,
teils geschlossen. Die wenigen hinzugefügten Fenster- und
Türelemente wirken wie Schichtungen oder vielmehr Überbleibsel aus
anderen Architekturen. Fehlstellen in den Laibungen, bei den
Stürzen und den Sohlbänken wurden zwar mit Betonsteinen und Mörtel
ausgebessert, blieben ansonsten aber roh und unverputzt.
Diesem Prinzip der demonstrativen Sichtbarmachung von Elementen
und Materialien entspricht auch die Kiesschicht am Boden. Durch den
offenen Dachstuhl scheint nicht nur die Sonne, sondern fällt auch
Regen und Schnee; Wind kann ungehindert durch die Räume fegen.
Architektur verschmilzt mit der Natur und ist physisch und mit
allen Sinnen erfahrbar. Die einzelne Eiche auf der Bel Etage ist
keine Dekoration, sie wächst und gedeiht dort wirklich.
Gewächshäuser als Haus-im-Haus
Schutz vor Wind und Wetter bieten sieben Gewächshäuser, die als
transparente Räume nach dem Haus-im-Haus Prinzip auf die
verschiedenen Geschoss-Reste verteilt sind. Die filigranen
Metall-Glas-Konstruktionen ähneln archetypischen Häusern aus
Kinderzeichnungen. Sie unterstreichen einerseits den Kontrast zum
Bestand und andererseits die puristische Reduktion auf das
Wesentliche. Die Gewächshäuser dienen als Treffpunkte, Aufenthalts-
und Rückzugsorte für verschiedene Aktivitäten.
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Mobiliar und Installationen
Ebenso flexibel wie die Räume sind die Möbel für die Glashäuser:
Gartenstühle und Klapptische aus Metall lassen sich individuell
bewegen, beliebig gruppieren oder gar beiseitestellen, wenn
beispielsweise die Freitreppe mit Sitzstufen oder eine Pergola als
Freiluft-Auditorium genutzt werden. Des Weiteren finden sich als
Installationen im und am Gebäude eine hoch aufragende
Straßenlaterne, Holzstege wie der Weg zu einem Strand, ein
authentisches altes Treppengeländer neben Cut-Outs mit
Drahtgeflecht-Brüstungen, die an geöffnete Käfige erinnern sowie
ein Platz zum Boule-Spielen.
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Surreale Atmosphäre
Insbesondere die zitathaften Elemente rufen eine surreale
Wirkung hervor, so als sei der ganze Ort eine Art Parallelwelt. Die
rätselhaft leeren Fenster- und Türöffnungen wecken Assoziationen an
Werke des belgischen Malers René Magritte, der gar nicht weit von
Gent entfernt geboren wurde. Eine Tür wie eine Traumsequenz malte
Magritte 1939 in seinem Bild La victoire (Der Sieg,
heute in einer Privatsammlung). Geheimnisvolle Fensterflügel, die
einerseits blind und andererseits auf den Himmel verweisen, finden
sich in Le palais de rideaux III (Der Palast aus
Vorhängen III von 1928/29, heute im Moma New York, außerdem
zahlreiche Lithographie-Versionen), um nur zwei von mehreren
Referenzen des Surrealismus zu benennen. Wie in den Gemälden wird
ein architektonisches Spiel mit konkreter Gegenwart, Spuren der
Vergangenheit sowie mit Imagination und Fiktion inszeniert –
auf dem Areal einer psychiatrischen Klinik.
Die Surrealität eröffnet hier zudem einen inspirierenden
Fingerzeig auf Möglichkeiten im Umgang mit baulicher Substanz.
Trotz der visuellen und haptischen Material- und Farbkontraste ist
eine harmonische Ästhetik und überraschend dichte Atmosphäre
entstanden, die zu einem Nachdenken über Zeit, über den Verlauf der
Jahreszeiten, über Vergänglichkeit und unser Erinnerungsvermögen
einlädt. Gleichzeitig erzeugen die unzähligen Ein- und Ausblicke in
die Natur zusammen mit dem natürlichen Licht eine unbeschwerte
Frische.
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Prozesshaftigkeit
Die Finanzierung der Baumaßnahme setzte sich überwiegend aus den
kalkulierten Abrisskosten zusammen. Dieser ungewöhnliche Re-Use
wird als ergebnisoffener Prozess systematisch beobachtet. Je nach
Bedarf sind Nachjustierungen ebenso wie Änderungen und Anpassungen
möglich und einkalkuliert, um die Flexibilität zu erhalten. Aus den
Erfahrungen sollen Erkenntnisse für die Nachnutzung und die Rettung
ähnlicher Architekturen gewonnen werden.
Der transformierte Caritas-Pavillon wurde mehrfach
ausgezeichnet. Unter anderem erhielt er 2018 auf der Biennale
Venedig einen silbernen Löwen und war 2019 Finalist beim Mies van
der Rohe Award. -sj
Bautafel
Architektur: AJDVIV: Architecten de Vylder Vinck Taillieu / Architecten Jan de Vylder Inge Vinck / Jo Taillieu Architecten, Gent, Belgien Projektbeteiligte: BAVO, Brüssel, Belgien (Masterplan und Wettbewerbsorganisation); Util, Schaerbeek (Tragwerksplanung); Bauherr*in: Psychiatric Center Caritas / Karus Melle Campus, Gent, Belgien Fertigstellung: 2016 Standort: Caritasstraat 76, 9090 Melle, Belgien Bildnachweis: Filip Dujardin, Gent über AJDVIV, Gent
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