Pivot-Tür und metallverkleidete Innentüren als Pinnwand
Ein Pavillon in einem Garten bietet als Homeoffice einen ruhigen
Rückzugsort für konzentriertes Arbeiten. Dieses kleine Gartenstudio
ist eine zeitgemäße Interpretation des historischen Folly,
einer wortwörtlichen Phantasie-Architektur im Garten.
Gallerie
Als experimentelles Modell im Maßstab 1:1 verkörpert dieses nur
knapp 30 Quadratmeter große Studio keinen verrückten Spleen,
sondern dient der Veranschaulichung von kompromisslos gut
gestalteter und organisierter sowie nachhaltiger Architektur auch
in kleinsten Parzellen und Hinterhöfen. Es vereint sorgfältige
Planung mit präziser parametrischer 3D-Modellierung, Verzicht auf
Beton, exakten Lasercuts zur Material-, Ressourcen- und
Kosteneinsparung sowie handwerklichem Selbstbau plus zukünftiger
Demontage.
Gartenarchitekturen
Das Konzept des Homeoffice gewann während der Corona-Pandemie
eine zuvor ungeahnte Bedeutung. Vielerorts wurden Wohnräume,
Esszimmer und sogar Küchen umgeräumt, um Esstische in
Computerarbeitsflächen zu verwandeln – von kreativ-skurrilen
Provisorien zur akustischen und visuellen Trennung ganz zu
schweigen. Der Londoner Architekt Richard Keys, der sich während
des Lockdowns mit dem Architektur- und Projektentwicklungsbüro
ByOthers selbständig gemacht hat, ging einen anderen Weg. Er
baute sich ein Arbeitszimmer als kleines Studio in den Garten
hinter seinem schmalen viktorianischen Reihenhaus im Londoner
Stadtviertel Peckham.
Nun ist Großbritannien berühmt für seine Gartenkultur, und zwar
nicht erst seit King Charles‘ Duchy Home Farm auf dem
Gelände der weitläufigen Gärten von Highgrove House.
Historische Gewächshäuser und Wintergärten verweisen auf eine
jahrhundertelange architektonische, gartenbau- und
agrarwissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur. Unzählige
Follies, also wortwörtlich verrückte Gartenarchitekturen
beispielsweise in Form von Ananas, Phantasie-Ruinen,
Staffage-Tempelchen bis zu den zeitgenössischen und meist sehr
skulpturalen Serpentine Gallery Pavilions in den Londoner
Kensington Gardens, veranschaulichen eine eindrucksvolle
Auseinandersetzung mit der Verknüpfung von Architektur und
Natur.
Doch Keys‘ Garten ist eher ein schmaler von seitlichen Mauern
begrenzter rückseitiger Hof mitten in Little Lagos, wie das
multikulturelle, südlich der Themse gelegene Stadtviertel Peckham
auch genannt wird.
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Parametrisches Entwerfen und 3D-Modellierung
Keys erstellte für sein Studio – typologisch eher ein Studiolo –
eine Liste von Parametern, also Wünschen, Vorgaben,
Rahmenbedingungen und Einschränkungen, um daraus ein digitales
3D-Modell zu entwickeln.
Die geringe zur Verfügung stehende Fläche war nicht die einzige
Einschränkung beim Entwurf des Studios, sondern insbesondere die
Zugänglichkeit des Hofs. Alle Materialien, Bauteile, Werkzeuge und
Maschinen konnten nur durch den Flur des Reihenhauses nach hinten
in den Hof getragen werden. Dieses Nadelöhr bedeutete zwangsläufig
einen Verzicht auf sonst übliche Baumaschinen zugunsten von graben,
justieren, fixieren, schrauben, nageln und vieles mehr in
Handarbeit.
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Die Auswahl geeigneter Materialien hinsichtlich Transport,
Handarbeit und Dimensionierung, beeinflusste den Detaillierungsgrad bei der 3D-Modellierung. Das
Modell wurde in digitale Einzelteile zerlegt, um deren benötigte
Länge, Breite, Form und Zuschnitt genauestens zu bestimmen. Diese
äußerst sorgfältige Planung führte zu einem ressourcensparenden
Umgang mit dem Baumaterial, da Fehlmengen, Verschnitt und Abfall
reduziert wurden. Das Resultat war zudem eine exakte Steuerung und
Kontrolle der Kosten. Diese Vorgehensweise korrespondierte mit
weiteren Parametern, nämlich dem Anspruch auf Nachhaltigkeit,
Demontierbarkeit und Mobilität. Das Studio sollte nach Ende des
Lockdowns abgebaut und auch an anderer Stelle für ähnliche
Nutzungen wiederaufgebaut und weitergenutzt werden können.
Außerdem sollte das Studio gleichermaßen als Mock-Up,
experimenteller Prototyp und Demonstrationsobjekt für potenzielle
zukünftige Aufträge des ja neuen Architekturbüros ByOthers
dienen.
Organisation, Erschließung, Belichtung
Die maximal mögliche Fläche des Studiolo wurde in Abhängigkeit
von den benötigten Funktionen in drei Teile gegliedert. Den
vorderen Teil nimmt das eigentliche Büro mit Platz für Schreib- und
Zeichentische ein. Im mittleren Teil befindet sich ein
Besprechungstisch, im dritten und hintersten Teil die Infrastruktur
mit Bad, einer Küchenzeile und einem Lager.
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Die Vorderseite des Studios lässt sich vollständig öffnen. Eine
Pivot-Tür nimmt die gesamte Breite des Volumens ein und bietet so
die größtmögliche Verknüpfung zwischen außen und innen. Der
breitere Flügel, der sich in Richtung Gartenmauer dreht, wirkt
dabei wie ein Spiegel. Durch diesen Kunstgriff wird der schmale
Abstand zwischen den beiden seitlichen Hofwänden visuell
vergrößert.
Raumhohe stehende Fenster in den Flächen der nach hinten
gestaffelten Verbreiterung tragen zur weiteren Belichtung des
Innenraums bei. Eine seitliche Tür im Küchenbereich dient als
Öffnung für Service und potenzieller Notausgang. Diese Tür wird
relevant, wenn das Studio demontiert, an anderer Stelle
wiederaufgebaut oder angesichts der im Modell angedachten
Erweiterung vergrößert werden sollte.
Holz, Metall und Farbe
Der Innenraum wirkt durch naturbelassene Oberflächen der
Tragstruktur aus Holz und dem Fußbodenbelag einheitlich pur. Die
Wandflächen sind mit hellem Lehmputz versehen. Dagegen sind die
Türen, hinter denen sich das Bad verbirgt, ebenso wie die Türen und
Klappen der Wand- und Küchenschränke mit irisierend blaugrünlichen
Metallblechen verkleidet. Die irisierende Beschichtung scheint visuell auf einen in den
gleichen Farben schimmernden Garten zu verweisen, ähnlich wie bei
traditionellen englischen Landhaustapeten mit dichtem Ranken- und
Blütenmuster auf grünlichem Grund. Die Metallverkleidung ist nicht
nur eine schöne Spielerei, sondern eine äußerst praktische Lösung,
da die gesamte hintere Wand als Pinnwand dienen kann, auf der sich
Zeichnungen, Skizzen und Notizen mittels Magneten befestigen
lassen.
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Statt herkömmlicher Betonfundamente wurden reversible Fundamente
in Form von miteinander verschraubten Metallrohren als Pfähle in
den Boden versenkt. Die Metallstäbe wurden manuell in den Boden
geschraubt, denn nur auf diese Weise lassen sie sich, wie das
gesamte Studio, rückstandslos entfernen und Beton-Rückstände
beeinträchtigen auch nicht die zukünftige Bepflanzung des
Hofs.
Boden und Dach des Studios sind als hölzerne Rahmenfachwerke
konstruiert. Als Dämmung wurde Schafwolle als natürlicher Rohstoff
verwendet. Im digitalen Modelling exakt bemessene und anschließend
lasergeschnittene Cortenstahl-Paneele mit vertikalen Stehfalzen
sind als äußere Verkleidung auf die Holzkonstruktion verschraubt.
Sie erzeugen einen lebhaften Rot-Grün-Komplementärkontrast zwischen
der Architektur und der Natur. Nur der Farn, der seitlich entlang
der Gartenwände gepflanzt wurde, verbleibt im Garten.
-sj
Bautafel
Architektur: Richard Keys / ByOthers, London Projektbeteiligte: London Structures Lab, London (Tragwerksplanung) Bauherr: Richard Keys, London Fertigstellung: 2022 Standort: Peckham, London / UK Bildnachweis: Lorenzo Zandri, London, über ByOthers
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