Hochwasserschutzanlage in Grimma
Denkmalschutz und Hochwasserschutz vereint
Tagelange extreme Regenfälle führten im Jahr 2002 zu schweren Überflutungen in Nord- und Ostdeutschland, insbesondere in Sachsen. Die Stadt Grimma, die am Fluss Mulde liegt, wurde stark zerstört und ein Teil der historischen Pöppelmannbrücke stürzte ein. Um solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern, beauftragte die Landestalsperrenverwaltung Sachsen die Arbeitsgruppe Hochwasserschutz & Denkmalpflege an der TU Dresden mit der Konzeption und Planung einer Hochwasserschutzanlage für Grimma. Nach über zehn Jahren Bauzeit wurde die aufwendige Anlage im Jahr 2019 fertiggestellt und 2022 sogar mit dem Sächsischen Staatspreis für Baukultur ausgezeichnet.
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Der Name der Stadt Grimma weist bereits auf die geographischen Gegebenheiten der Stadt hin: Das altsorbische Wort „grim“ bedeutet „tiefgelegenes, von Wasser und nassen Wiesen umgebenes Gelände“. Die Stadt liegt im Tal der Mulde, die ebenso wie die Elbe im Erzgebirge entspringt. Im Jahr 2002 schwollen die Flüsse innerhalb weniger Stunden auf das mehrfache ihrer Größe an – mit katastrophalen Folgen für die Orte entlang der Ufer. In der Altstadt von Grimma stand das Wasser bis zu 3,5 Meter hoch, ein Mensch starb und rund 700 Häuser wurden zerstört. Der finanzielle Schaden belief sich laut Schätzungen auf mehr als 220 Millionen Euro.
Statistisch gesehen kommt ein solches Hochwasser nur alle 100 Jahre vor. Daher war es notwendig, eine Anlage zu entwickeln, die die historisch bedeutende Altstadt und ihre Bewohner*innen vor steigenden Pegelständen schützt, ohne dabei das Ortsbild zu überformen.
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Hochwasserschutz kombiniert mit Denkmalschutz
Wie für flussnahe Siedlungen typisch, so ist auch Grimmas Altstadt auf den Lauf des Wassers bezogen. Besonderen Denkmalwert besitzen die alte Wehrmauer, die sogenannten Bürgerhäuser und die markanten Monumentalbauten, ebenso die Wallring-Anlagen und die barocke Pöppelmannbrücke. Die technischen Notwendigkeiten der Anlage und die denkmalschutzrelevanten, städtebaulichen Besonderheiten integrierte die Arbeitsgruppe in einen Entwurf, der sich sensibel in den Bestand einfügt. Zugleich nutzten die Planer*innen die Möglichkeit, die Uferzone aufzuwerten und die Beziehung der Stadt zum Fluss zu revitalisieren.
Hochwasser im Maßstab 1:50
Als Grundlage für die Ermittlung eines stadträumlich günstigen Verlaufs der Schutzmauer dienten strömungsmechanische Modelle. Dazu wurde die Stadt Grimma im Maßstab 1:50 nachgebaut und geflutet – mit 57 x 25 Metern das bisher größte physikalische Modell Sachsens, das für den Hochwasserschutz untersucht wurde.
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Schutz im Untergrund
Die oberirdischen Bauabschnitte der neuen Anlage beziehen die Stadtmauer und prägende Baudenkmäler mit ein. Neue Wege entlang des Flusses verbinden Uferräume und erzeugen Aufenthaltsbereiche. Allerdings ist der weitaus größte Teil der rund 62 Millionen Euro teuren Anlage unsichtbar: 90 Prozent der Schutzmauer liegen unter der Erde bzw. unter Wasser. Grimma wurde auf Kies und Geröll gebaut, einem so durchlässigen Untergrund, dass eine bis zu zwölf Meter in die Tiefe reichende Dichtwand errichtet werden musste. Da diese Wand den Grundwasserstrom beeinflusst, wurde eine neue Grundwasserkommunikation mit insgesamt acht Brunnen installiert.
Spezifische Lösungen, einheitliches Erscheinungsbild
Auf die unterschiedlichen Bausituationen innerhalb und außerhalb der Altstadt reagierten die Planenden mit spezifischen Lösungen. Dabei sorgte ein übergeordnetes Gestaltungskonzept für ein einheitliches Erscheinungsbild der knapp zwei Kilometer langen Anlage. An die Schutzmauer angrenzende historische Gebäude wurden eingebunden, etwa die Klosterkirche, das Schlosses und das Gymnasiums St. Augustin, deren Sockel ertüchtigt wurden und nun dem Druck eines Hochwassers standhalten. Insgesamt 78 Verschlusseinheiten ermöglichen im Ernstfall eine Schließung der Mauer, um die Mulde außerhalb der Stadt zu halten.
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Die alte Stadtmauer war bautechnisch ungeeignet für den Hochwasserschutz, sodass die Architekt*innen ihr eine neue Schicht vorsetzten. Eine für die Region typische Natursteinverkleidung soll das historische Erscheinungsbild bewahren, architektonische Eigenheiten wie Torbögen wurden nachgebildet. Die für Grimma bekannten Mauerhäuschen sitzen nach Umbaumaßnahmen nun auf der neuen Schutzwand auf, ihre Fenster wurden mit Hochwasserklappen versehen.
Eine Pergola zwischen der Kirche und dem Gymnasium kann im Ernstfall mit Toren ebenfalls verschlossen werden und zeigt sich ansonsten als durchlässiger Schwellenraum. Freistehende Stahlbetonmauern schützen die Abschnitte zwischen den Gebäuden und in Richtung Pöppelmannbrücke. Am Schloss ist die Hochwasserschutzwand begehbar und führt von der instandgesetzten Brücke auf die neue Promenade. Außerhalb der Stadt ist die Schutzmauer geschwungener gestaltet und durchzieht einen neuen Uferpark.
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Abschnittsweise beauftragte Ingenieurbüros waren für die technische Umsetzung der Anlage verantwortlich, die Architekt*innen betreuten das gesamte Verfahren. Dank dieser beeindruckenden Teamleistung konnte in verschiedenen Bauabschnitten die neue Schutzanlage ober- und unterirdisch implementiert werden. Sie schützt Grimma nicht nur im Katastrophenfall, sondern stellt auch im Alltag neue Beziehungen der Stadt zum Fluss her. -hs
Bautafel
Architektur: Prof. Thomas Will, Dr. Nils Schinker, Dr. Heiko Lieske (LA), Andreas Ammon; Mitarbeit: Antje Fleischer, Martin Flemming, Andreas Fuchs, Boris Harbaum, Martin Haymann, Katharina Odrich, Tobias Reckert, Tanja Stock (Städtebauliche Trassierung und Einbindung, Gestaltung oberirdische Bauwerke und Freianlagen, Denkmalschutz)
Projektbeteiligte Ingenieurswesen: ICL Ingenieur Consult, Leipzig (Projektsteuerung); PGS Scholz & Lewis, Dresden; G.U.B. Ingenieur, Zwickau; KUBENS, Leipzig; Jäger Ingenieure, Radebeul; CDM Consult, Leipzig
Projektbeteiligte Fachplaner*innen: Naturförderungsgesellschaft Ökologische Station Borna-Birkenhain, Borna (Flora-Fauna-Habitat); Ingenieurbüro Klemm und Hensen, Leipzig (Vermessung, Liegenschaftsbearbeitung); Ingenieur-Büro Boedecker, Dresden (Hochwasserschutz-System); PGS Scholz & Lewis, Dresden (Baugrund, Grundwassermonitoring); PLA.NET, Kemmlitz (Umweltverträglichkeitsstudien); Bürogemeinschaft Brandtner und Prof. Dr.-Ing. habil. L. Schubert, Leipzig (Statikbüro); TU Dresden Fakultät Architektur, Professur Denkmalpflege und Entwerfen (Städtebau und Denkmalpflege); TU Dresden Institut für Wasserbau und Hydromechanik (Hydromechanik)
Projektbeteiligte Schöpfwerk: Dr. Ing. Heinrich Ingenieursgesellschaft, Freiberg; rka, Dresden (Architektur); Ingenieurbüro Hübler, Borna (Elektrische Mess-, Steuer- und Regelungstechnik)
Bauherrschaft: Landestalsperrenverwaltung Sachsen, Betrieb Elbaue/Mulde/Untere Weiße Elster
Fertigstellung: 2019
Standort: Grimma, Sachsen
Bildnachweis: Till Schuster (Fotos); AG Prof. Will TU Dresden (Pläne)
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