Holstenfleet in Kiel

Wasser statt Verkehr

Die meisten deutschen Innenstädte sind dominiert vom motorisierten Verkehr und der entsprechenden Infrastruktur. Darunter leidet nicht nur die Aufenthaltsqualität, sondern aufgrund von Flächenversiegelung und Luftverschmutzung durch die Autoabgase auch das Mikroklima. Dieser Zustand ist auf das Planungsparadigma der autogerechten Stadt zurückzuführen, das von der Charta von Athen propagiert wurde und sich im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg als Symbol der Zukunft durchsetzte.

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In Hinblick auf das Klima und eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung mehren sich heute die Forderung nach einer Reduzierung des Individualverkehrs und Konzepte von gänzlich autofreien Innenstädten – auch in der Bevölkerung. In Kiel konnte diese im Rahmen eines Werkstattverfahrens Ende 2008 Wünsche für die Verbesserung ihres Lebensraums einbringen, die im Rahmenkonzept Perspektiven für die Kieler Innenstadt festgeschrieben wurden. Eines der Ergebnisse ist der Rückbau eines Verkehrsknotenpunktes, dessen Stelle seit 2020 das Holstenfleet einnimmt. Geplant wurde das Projekt von bgmr Landschaftsarchitekten aus Berlin.

Wasserstadt: rekonstruiert

Wasser spielt in Kiel eine große Rolle: Die ehemalige Hansestadt liegt am Nord-Ostsee-Kanal und die Kieler Förde ragt keilförmig in das Stadtgebiet hinein. Einen direkten Zugang zum Wasser gab es innerhalb der Innenstadt jedoch nur bis 1905, als die Altstadt noch wie eine Halbinsel vom Wasser umgeben war: Zwischen dem Bootshafen an der Förde und dem Kleinen Kiel – einem Süßwassersee am nordöstlichen Rande der Altstadt – verlief ein Kanal, der zugunsten der städtischen Verdichtung und dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur weichen musste. Das Stadtentwicklungsprojekt Holstenfleet rekonstruiert diese historische Struktur: Zwei Wasserbecken zeichnen den ehemaligen Kanal nach und bilden zusammen mit den beiden vorhandenen Gewässern eine Wasser-Platz-Folge, die die Innenstadt an die Förde heranführt. Die neue Struktur ist jedoch nicht als Wasserweg vorgesehen, sondern dient ausschließlich der Erholung und dem Aufenthalt.

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Bürger*innenbeteiligung: Impuls und Gestaltung

Das Berliner Büro bgmr Landschaftsarchitekten hatte den Wettbewerb bereits 2012 gewonnen und arbeitete von 2013 bis zur Fertigstellung 2020 intensiv an dem Umbauprojekt. Die geplanten Eingriffe hatten erheblichen Einfluss auf den Stadtraum und es wurden Einwände bezüglich der Gestaltung in der Öffentlichkeit laut. Daraus entwickelte sich ein Bürger*innenentscheid und ein intensives Beteiligungsverfahren, das vom Hamburger Büro Luchterhandt über ein Jahr lang betreut wurde: Sie stellten ein Modell auf, organisierten Versammlungen und werteten die Ergebnisse aus. Begleitet hat diesen Prozess ein Ortsbeirat. Rund 600 Eingaben habe es im Beteiligungsprozess gegeben. Die wichtigste Kritik galt der Materialität: Die Anwohnenden bemängelten zu viel Beton und zu wenig Holz und Grün. Außerdem forderten sie eine bessere Erreichbarkeit des Wassers und mehr Sitzgelegenheiten.

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Trennende Straße wird verbindender Stadtplatz

Die Holstenbrücke war vor dem Umbau ÖPNV-Knotenpunkt und Durchgangsstraße; Fußgehende und Fahrradfahrende waren als Verkehrsteilnehmer*innen untergeordnet. Mit dem Umbau entstand einerseits ein urbaner Platz mit Aufenthaltsqualität, andererseits besteht nun eine fast durchgehende Spazierroute von der Förde zum Bootshafen, über das Holstenfleet bis hin zum kleinen Kiel nordwestlich der Altstadt. Der motorisierte Verkehr ist zwar nicht komplett verschwunden, wurde aber zugunsten einer besseren Aufenthaltsqualität stark eingeschränkt: Die schwellenlose Verkehrsfläche, die parallel zum Becken auf der westlichen Platzseite als Shared Space verläuft, dürfen nur Linienbusse, Taxen, Fahrräder oder Fußgänger*innen nutzen; private PKWs dürfen den Ort nicht passieren. Optisch ist kein Unterschied zwischen Platz- und Verkehrsfläche ersichtlich; das Streifenmuster des Pflasters auf dem Platz geht nahtlos in den Verkehrsraum über. Dafür trugen die Beteiligten epoxidharzgebundene Feinsplitte auf den Asphalt auf, mit denen Streifen in drei verschiedenen Grautönen realisiert werden konnten.

Beckengestaltung und -umsetzung

Hauptattraktion des neuen Platzes sind zwei großzügige Wasserbecken: In Richtung Bootshafen liegt ein rechteckiges Becken, an das das zweite, längliche Becken unmittelbar anschließt. Hier verbinden zwei diagonal verlaufende Brücken die beiden Beckenseiten. Insgesamt ist das Fleet 170 Meter lang und 9,5 Meter breit. Im Westen grenzen die Becken an den Shared-Space-Verkehrsraum an und bilden eine klare Raumgrenze. Nach Osten hin wirkt die Gestaltung deutlich aufgelockerter: Die Kante verspringt, Sitzgelegenheiten aus Holz wechseln sich mit Treppen ab, die auf das Wasserniveau hinunterführen. Beim rechteckigen Becken führen auf dieser Uferseite hölzerne Terrassen sukzessive zur Wasserkante, polygonale Inseln mit abgerundeten Ecken ragen in das Becken hinein. Zum Teil wurden hier Wasserspiele integriert. Rampen erlauben einen rollstuhlgerechten Zugang zum Wasser.

Bei den Grabungsarbeiten für die Umsetzung der Becken stießen die Beteiligten vor dem sogenannten Ahlmannhaus auf Unerwartetes: Die Bauleute legten Fundamentreste eines nach dem Zweiten Weltkrieg abgetragenen Gebäudes frei. Da diese Kellerwände für die heutige Bebauung statisch bedeutend sind, mussten sie erhalten werden. An dieser Stelle konnte das Becken nicht bis zur geplanten Kante ausgegraben werden; stattdessen verspringt die Wasserkante nach innen und die Planenden setzten hier in das Wasser hineinragende Sitzstufen um. Ein zwei Meter breiter, mit Schilf bepflanzter Bodenfilter reinigt das Wasser und reduziert den Aufwand für die Pflege und Unterhaltung der Wasserfläche. Der Schilffilter sichert nicht nur die Gewässergüte, sondern wirkt auch als klimaaktive Verdunstungsfläche.

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Entwässerungskonzept

Das Entwässerungskonzept lässt die Gestaltung weitestgehend unberührt. Die Straßenabläufe der Verkehrs- und Vegetationsflächen sind mit Rosten in die Rampensteine integriert. Baumschutzroste schützen den Boden der neu gepflanzten Sumpfeichen vor zu starker Verdichtung und sorgen zugleich für eine ausreichende Wasserversorgung der Wurzeln. Um das Südbecken herum wurden Entwässerungsrinnen mit Schlitzrahmen eingebaut, die sich subtil in die Gestaltung des Bodenbelags einfügen. Die Rinnenkörper liegen verborgen unter den Belägen aus Holz und Beton, sichtbar bleibt lediglich der schmale Metallschlitz, der das Oberflächenwasser aufnimmt. Am Nordbecken wurden ebenfalls Entwässerungsrinnen in den Bodenaufbau integriert, hier mit Stegrost-Abdeckungen.

Eine der drei Inseln im Südbecken ist mit einem Holzdeck versehen und kann als Sitz- und Liegefläche genutzt werden. In den anderen beiden Inseln liegen Brunnenanlagen mit Wasserspielen. Das heraussprudelnde Wasser wird durch Edelstahl-Schlitzrinnen aufgenommen und in den Kreislauf zurückgegeben. -si

Bautafel

Landschaftsarchitektur: bgmr Landschaftsarchitekten, Berlin
Projektbeteiligte: Sauerzapfe Architekten, Berlin und bgmr Landschaftsarchitekten, Berlin
(Brücken); Ingenieurbüro Obermeyer, Potsdam (Ingenieurbau und Wassertechnik); Masuch + Olbrisch, Oststeinbek (Verkehrsanlagen); IFB Frohloff Staffa Kühl Ecker, Berlin (Tragwerksplanung); ACO, Büdelsdorf (Linienentwässerung: Schlitzrinnen)
Bauherrin: Landeshauptstadt Kiel
Fertigstellung: 2020
Standort: Holstenbrücke, 24103 Kiel
Bildnachweis: ACO, Büdelsdorf (Fotos)

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