Ausbildungs- und Innovationszentrum der Fakultät Textil und Design
Die Fakultät Textil und Design der Hochschule Reutlingen hat mit
dem Texoversum ein neues Gesicht erhalten. Der im Sommer
2023 fertiggestellte Bau ergänzt das bestehende Campus-Ensemble aus
Forschungs- und Lehreinrichtungen. Das Entwurfsteam – eine
Kooperation der Architekturbüros Allmann Wappner, Menges Scheffler
Architekten und Jan Knippers Ingenieure – bringt den Schwerpunkt
der Fakultät in der vorgesetzten Fassade zum Ausdruck: Glas- und
Carbonfasern setzen sich – robotisch gewebt – zu einer
luftig-transparenten Hülle zusammen, die neben funktionalen
Anforderungen vor allem ein visuelles Statement setzt.
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Traditionsreiche Ausbildungsstätte mit offenem
Grundrisskonzept
Als bedeutender Textilstandort greift die Hochschule Reutlingen
auf eine über 160-jährige Ausbildungstradition zurück und verbindet
diese in dem neuen Lehr- und Forschungsgebäude mit einem freien
Raumkonzept. Damit soll das Texoversum als offenes
Innovationszentrum zu einem weiteren Anlaufpunkt für Studierende,
Forschende und Lehrende avancieren. Als Hommage an die Tätigkeiten
des Lehrstuhls wurde in der Wettbewerbsauslobung explizit eine
textile Fassade gefordert. Das Team aus verschiedenen Architektur-
und Ingenieurbüros ging noch einen Schritt weiter und machte das
Entwurfsthema nicht nur in der Hülle ablesbar, sondern auch im
Inneren des Gebäudes: Durch Split-Level, die über ein großzügiges
Atrium visuell miteinander verbunden sind, kommt es zu einer
„Verwebung der Funktionen“. Die halbgeschossig versetzten Ebenen
rechts und links des zentralen Luftraumes können unterschiedliche
Nutzungen aufnehmen. Die offene Grundrissgestaltung sorgt dabei für
ein fließendes Raumkontinuum mit gemeinschaftlicher
Arbeitsatmosphäre.
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Auf rund 3.000 Quadratmetern verteilen sich Werkstätten und
Labore, multifunktionale Bereiche für Forschung und Entwicklung,
verschiedene Unterrichtsräume sowie Ausstellungsflächen für eine
Sammlung historischer Textil- und Stoffmuster. Den oberen Abschluss
des Gebäudes bildet eine großzügige Dachterrasse. Durch Raumteiler
aus Stoff lassen sich Bereiche voneinander abtrennen. Gemein ist
allen Ebenen und Nutzungen ein robuster Werkstattcharakter mit
Industrieestrich- und Sichtbetonflächen sowie offen installierten
Technikdecken. Kontrastiert wird die werkstattähnliche Arbeitswelt
von farblich prägnanten Sitzzonen im Atrium, die auch die einzelnen
Split-Level optisch miteinander verbinden. Mit dem kontinuierlichen
Farbverlauf demonstrieren die Beteiligten das Potenzial bedruckter
Textilien.
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Robotische Fertigung von faserbasierten Werkstoffen
Die Besonderheit des Gebäudes liegt neben der offenen
Grundrissgestaltung und Vernetzung der Funktionen in der
Beschaffenheit und Herstellung der vorgesetzten Sekundärfassade:
Die selbsttragende Hülle besteht aus 476 dreieckigen und
trapezförmigen Elementen aus robotisch gewickelten Glas- und
Kohlenstoffasern. Die einzelnen Elemente sind untereinander über
Bolzen verbunden – für diese wurden im Wickelprozess Hülsen in die
Fasern eingebettet. Am Fertigungsprozess beteiligt waren das
Institut für computerbasiertes Entwerfen (ICD) von Achim Menges und
das Institut für Tragkonstruktion und Tragwerksplanung (ITKE) von
Jan Knippers an der Universität Stuttgart.
Als Teil des Exzellenzclusters Integratives computerbasiertes
Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) forschen sie
bereits seit 2019 gemeinsam an leistungsfähigen Tragwerken aus
faserbasierten Werkstoffen. Die Herstellung der Fassade des
Texoversums basiert auf einer digitalen Fertigungstechnologie des
kernlosen robotischen Wickelns von tragenden Großbauteilen aus
Faserverbundwerkstoffen: Endlosfasern werden bei diesem Prozess
durch einen Industrieroboter so auf ein Leergerüst gewickelt, dass
sich im Verlauf die zuvor simulierte Form des Bauteils
ergibt.
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Zwei Lehrgerüste für 476 Fassadenteile
Für die Herstellung der 476 Fassadenelemente wurden lediglich
ein dreieckiges Wickelgerüst für das Regelbauteil und ein
trapezförmiger Rahmen für die Eckbauteile benötigt. Auf diese
Gerüste werden zunächst in Harz getränkte, transluzente Glasfasern
abgelegt. Im gleichen Prozess werden diese anschließend an den
hochbelasteten Stellen durch schwarze Kohlenstofffasern armiert.
Nach Aushärten der Fasern können die Rahmen abgenommen und für die
Produktion weiter Elemente wiederverwendet werden. Die
Programmierung, der Wickelprozess und die Aushärtungsphase
verliefen dabei parallel; aufgrund des kernlosen, robotischen
Wickelprozess variiere die Produktion abhängig von der Faserlänge,
so die Projektbeteiligten.
Durch den Einsatz dieses einfachen und vielfach
wiederverwendbaren Lehrgerüsts kann gegenüber herkömmlicher
Herstellungsverfahren, etwa beim Betongießen mit aufwendigen und
materialintensiven Schalungen, viel Material eingespart werden. Ein
weiterer Vorteil der robotischen Fertigung liegt unter anderem auch
im Variantenreichtum, mit dem der vorab programmierte Roboter die
Fasern wickelt. So kann die Anzahl, Anordnung und Ausrichtung der
Fasern punktgenau gesteuert werden, sodass nur ein Minimum an
Material benötigt wird und keinerlei Abfall oder Verschnitt
entsteht – jeder Zentimeter Faserstrang wird
genutzt.
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Integrativer und digitaler Ansatz des Planens und Bauens
Jedes einzelne Fassadenelement kann individuell an die
Erfordernisse der Nutzung angepasst werden: ausgehend von drei
Grundmodulen transformieren sich die Elemente entsprechend der
Blickrichtungen und des Sonnenverlaufs. So gibt es Bereiche mit
dichter oder weniger dicht gewickelten Fasern sowie Flächen ohne
Fasern. Dadurch fungiert die Fassade als außenliegender
Sonnenschutz für den rundum verglasten Baukörper und lässt zugleich
an bestimmten Stellen Ausblicke auf den Campus zu. Darüber hinaus
dient die Faserfassade der Absturzsicherung. Alle Fassadenelemente
sind untereinander mit lösbaren Bolzen verbunden. Zudem ist die
Rückverankerung an das Gebäude verschraubt, sodass die gesamte
Fassade zerstörungsfrei rückgebaut werden kann.
Die algorithmische Generierung des Fassadenverlaufs, also die
unterschiedlichen Öffnungsgrade, erfolgte innerhalb einer üblichen
CAD-Umgebung durch ein Plug-In. Darin integriert sind die
Simulations- und Analyseergebnisse der beteiligten
Fachplaner*innen, darunter der Sonnenverlauf, die erforderlichen
Verschattungsgrade und die tragwerksplanerischen
Anforderungen.
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Experimentieren für die Zukunft
Wie bei allen neuen Technologien muss das architektonische
Potenzial im Bauen mit Fasern präzise ausgelotet werden. Als erstes
gebautes Experiment seiner Art untersucht das Texoversum die
Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit faserbasierter Materialien
und Textiltechniken. Was es bedarf, den Stellenwert digitaler
Fertigungsmethoden im Bauwesen zu erhöhen, betont Achim Menges:
„Die additive Fertigung wird auf die eine oder andere Weise
ganz sicher vermehrt Einzug in die Baupraxis finden. Um das volle
Potenzial dieser Technologie zu nutzen, ist es allerdings
erforderlich, die derzeit relativ strikte Trennung zwischen Planung
und Ausführung infrage zu stellen, denn Planung und Ausführung
bedingen sich im Fall der additiven Fertigung wechselseitig und
bedürfen eines wesentlich höheren Maßes an Integration. Das
Bauschaffen in seiner heutigen Ausprägung, das eine einfache
Bauausführung mit einem erheblichen Mehrbedarf an Material erkauft,
erscheint nicht länger zukunftsfähig.“
Es bedürfe neuer Denkansätze, bei denen sich Menges von
tragenden Strukturen aus der Natur inspirieren lässt: So besteht
etwa Zellulose, Chitiin oder Kollagen aus Fasern, die ebenso wie
bei der Herstellung der Texoversum-Fassade nur dort platziert sind,
wo sie tatsächlich benötigt werden. -st
Bautafel
Architektur: allmannwappner, München; Menges Scheffler Architekten, Frankfurt; Jan Knippers Ingenieure, Stuttgart Projektbeteiligte: allmannwappner, München (General- und Objektplanung); Menges Scheffler Architekten, Frankfurt (Objektplanung Sekundärfassade); Jan Knippers Ingenieure, Stuttgart (Tragwerksplanung Sekundärfassade); FibR, Kernen (Herstellung Sekundärfassade); bwp Burggraf + Reiminger, München (Tragwerksplanung Gebäude); Müller-BBM Building Solutions, Planegg (Bauphysik); Glück Landschaftsarchitektur, Stuttgart (Landschaftsplanung) Bauherr*in: Südwesttextil – Verband der Südwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie Fertigstellung: 2023 Standort: Alteburgstraße 150, 72762 Reutlingen Bildnachweis: Brigida González (Fotos); allmannwappner, München (Pläne)
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