Der Weiße Turm in Mulegns
Kulturstätte aus dem 3D-Drucker
Am Julierpass im Schweizer Kanton Graubünden liegt das Dorf Mulegns – mit einer beachtlich geringen Bevölkerung: Nur noch vierzehn Menschen leben an diesem von der Alpenlandschaft geprägten Ort. Das zu ändern hat sich Giovanni Netzer vorgenommen, Theaterintendant und Gründer des Origen-Kulturfestivals – getragen von der Kulturstiftung Nova Fundaziun Origen. Nachdem er eine historische Villa verschieben und das alte Hotel Löwe wieder in Betrieb nehmen ließ, soll der Weiße Turm Tor Alva als neues Zentrum das Dorf wiederbeleben: Eine begehbare Installation, intimer Konzertraum und Ort der kulturellen Vermittlung.
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Entworfen und geplant wurde das Bauexperiment von ETH-Professor Benjamin Dillenburger und Michael Hansmeier aus der Forschungsgruppe Digitale Bautechnologien, ebenfalls von der ETH Zürich. Die ornamentale Gestaltung soll an die lokale Bündner Zuckerbäckertradition erinnern: Viele Bündner Auswanderer hatten sich im 18. Jahrhundert als Patissiers etabliert und waren bekannt für ihre filigranen kleinen Zuckertürme mit üppiger Verzierung. Aber auch bautechnisch ist der Turm ungewöhnlich: nach seiner geplanten Fertigstellung im September 2024 wird er mit 30 Metern die höchste 3D-gedruckte Struktur der Welt sein.
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Bestand trifft neue Formensprache
Der Weiße Turm besteht aus vier Ebenen mit je acht verzweigten, additiv gefertigten Stützen, die jeweils einen Durchmesser zwischen sechs und acht Metern aufweisen. Die neue Struktur baut auf der denkmalgeschützten Fuhrhalterei auf; zusammen ergeben Bestand und Neubau fünf Geschosse mit einer Gesamthöhe von 30 Metern. Der Sockel im historischen Gebäude beherbergt den Eingangsbereich, von dem aus die Erschließung über eine vorgefertigte Wendeltreppe im Zentrum des Baus beginnt. Von Geschoss zu Geschoss werden die Kolonnaden heller und lichter: Die unteren Ebenen sind durch schwere und gedrungene Säulenanordnungen charakterisiert, den oberen Abschluss bildet der 7,5 Meter hohe Theatersaal mit seinem gewölbten Dach aus acht Kuppelträgern mit feingliedriger Verästelung. Hier können rund 45 Besucher*innen Konzerte, Lesungen oder Choreografien – und eine weite Aussicht über die malerische Landschaft genießen. Für die Wintermonate ist eine demontierbare Membranfassade als Wetterschutz vorgesehen, die Wind und Schnee abhält.
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Additive Fertigung per Industrieroboter
Bemerkenswert ist die Fertigungsweise des Weißen Turms: Die insgesamt 32 verzweigten Stützen werden von Industrierobotern mit einem von der ETH entwickelten Extrusionsverfahren in den Werkstätten der Universität in Hönggerberg gedruckt. Gerade einmal zwei Stunden dauert der Druck einer drei Meter hohen Säule. Rund 4000 Betonschichten mit Stärken von 5 bis 7 Millimeter und Breiten von 15 bis 20 Millimeter extrudierte der Roboter für die Stützen des Weißen Turms.
Bei dieser Herstellungsweise ist die Betonzusammensetzung essenziell für den Druckerfolg: Der Beton muss fließfähig genug sein, um sich zu verbinden und homogene Komponenten zu bilden, dabei jedoch so schnell aushärten, dass die Struktur beim Auftragen der nachfolgenden Schichten nicht kollabiert. Daher sind neben den Entwurfsverfassern drei weitere ETH-Professoren beteiligt: Robert Flatt ist verantwortlich für die Betonzusammensetzung, Walter Kaufmann für die Tragstruktur und die Verbindungen der gedruckten Betonelemente und Andreas Wieser für die Vermessung und Formkontrolle. Für die horizontalen Bauteile, also vor allem die Geschossplatten, kamen 3D-gedruckte Schalungen zum Einsatz.
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Materialreduzierte und tragoptimierte Formgebung
Da beim 3D-Druck von Beton keine Schalungen benötigt werden, eröffnen sich neue Freiheiten hinsichtlich Formgebung, Oberflächendetails und Hohlräume. Außerdem kann das Verfahren zur Materialreduktion und damit auch zur Verringerung der CO2-Emissionen beitragen: So wird bei den Stützen des weißen Turms der Beton nur dort aufgetragen, wo er strukturell nötig ist. Damit wird nur rund die Hälfte der Menge an Beton verbraucht. Im Vergleich zu herkömmlichen Methoden sind die Bauteile präziser – und günstiger, da zeitaufwendige, repetitive und sehr komplexe Aufgaben durch den Roboter erledigt werden. Dazu gehören bei der Herstellung der Stützen auch die robotische Integration vertikaler und horizontaler Bewehrung.
Die meisten Elemente der Säulen aus weißem Beton sind bereits fertiggestellt und liegen im Val Surses in der Werkhalle des beteiligten Bauunternehmens. Dort werden sie zunächst zu Modulen zusammengefügt, um sie anschließend mithilfe von Kränen auf der Baustelle zu montieren. Diesen Prozess können Interessierte ab Juli 2024 vom Garten des benachbarten Hotels Löwe aus beobachten.
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Modular, zirkulär und skalierbar
Die computergestütze Planung und Herstellung und die modulare Bauweise erlaubt neben Formfreiheit und Materialreduktion außerdem einen einfachen Rückbau der Struktur. Dieses Konzept berücksichtigten die Beteiligten bereits in der Planung. Nach fünf Jahren Standzeit kann der Weiße Turm abgebaut und an anderer Stelle wiederaufgebaut werden. Daher sind die Elemente trocken – also ohne Klebstoffe – über lösbare Schrauben miteinander verbunden. Zudem sind alle Projektdaten in einem digitalen Zwilling gespeichert, wodurch Koordination, Simulation, Evaluation und Realisierung ohne herkömmliche Baupläne durchgeführt werden können. Die in einer benutzerdefinierten Software programmierten und entworfenen Formen wurden direkt an die Druckroboter gesendet. -si
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Bautafel
Architektur: Michael Hansmeyer und Benjamin Dillenburger, ETH Zürich
Projektbeteiligte: Digital Building Technologies, ETH Zürich (Entwurf); NFS Digitale Fabrikation, ETH Zürich (Forschung/Entwicklung Extrusionsverfahren); Institut für Baustoffe, ETH Zürich (Betonzusammensetzung); Institut für Geodäsie u. Photogrammetrie, ETH Zürich (Vermessung und Formkontrolle); Institut für Baustatik und Konstruktion, ETH Zürich (Tragwerk); Uffer, Savognin / Val Surses und Zindel United, Maienfeld (Bauunternehmen, Ausführung); Invias, Maienfeld (Generalunternehmen); Conzett Bronzini Partner, Chur (Statik)
Bauherr*in: Nova Fundaziun Origen, Riom, Schweiz / Giovanni Netzer
Standort: Mulegns, Schweiz
Fertigstellung: September 2024
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