East Beach Café in Littlehampton
Monocoque mit Glasfaltwand
Littlehampton ist einer der zahlreichen Badeorte an der südenglischen Küste. Kaum 40 Kilometer weiter östlich liegt Brighton mit den langen Piers und dem berühmten Royal Pavilion, der historischen königlichen Sommerresidenz, die die indische Mogul-Architektur phantasievoll nachahmt. Die Fahrzeit nach London beträgt nur knapp zwei Stunden. Trotz des weiten Kiesel- und bei Ebbe Sandstrands zu beiden Seiten der Mündung des Flusses Arun und der guten Verkehrsanbindung galt der Ort lange als schläfrig und aus der Zeit gefallen. Doch dieses Image hat sich gewandelt, seit durch eine beherzte private Initiative der Bau eines faden Zweckbaus am Oststrand zugunsten eines in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen Experiments verhindert wurde.
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Meerestiere als narratives Konzept
Architektur- und Designliebhaber*innen vom altehrwürdigen Royal Institute of British Architects bis zur Vogue pilgern nun ebenso wie sogenannte Foodies nach Littlehampton, um im East Beach Café Restaurant Tintenfisch mit pinkem Mais, Lachsmousse mit in Sojasauce glasierter Aubergine oder Krebse in Chili-Linguine zu genießen. Die Fische und Meeresfrüchte auf den Tellern haben dabei durchaus Ähnlichkeit mit der Architektur. Die Gestalt des Hauses weckt Assoziationen an wogenden Seetang in der Brandung, prähistorische Riesenmuscheln und Tentakel geschuppter Seeungeheuer à la Kapitän Nemo und seinen 20.000 Meilen unter dem Meer.
Das bildliche wie symbolische Konzept des Meeres samt Lebewesen als Vorlage für die Architektur bestätigt das Büro Heatherwick Studio, das um einen Gegenentwurf gebeten wurde. Trotz des sehr engen Budgets der privaten Initiative wollten sie eine individuelle Lösung aus Respekt vor dem topografisch unvergleichlichen Standort zwischen Meer, Strand und historischer Häuserzeile wenige Meter landeinwärts aufzeigen. Maritime Motive wie geschichtete Segel mit Messingverzierungen und vergleichbare Dekorationen aus dem Yacht-Equipment wollten sie aufgrund der mittlerweile überstrapazierten und teils klischeehaften Verwendung allerdings nicht.
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Monocoque aus gebogenen Stahlbändern
Die Analogie zu einer Muschelschale oder vielmehr dem Panzer einer Languste ist bei dem Standcafé nicht nur narrativ, sondern gibt das Konstruktionsprinzip eines Monocoque (franz.: einzelne Schale) vor. Diese Konstruktionsart einer selbsttragenden, homogenen und im Sinne einer Optimierung sogar nur einzelligen Schale ist in der Architektur eher selten und kommt normalerweise im Schiffs-, Flugzeug- und Fahrzeugbau zur Anwendung. So werden beispielsweise die Rümpfe der Airbus-Flugzeuge in Semi-Monocoque-Bauweise gefertigt, um bei einem möglichst geringen Gewicht eine höhere Steifigkeit durch zusätzliche Stringer (Längsversteifungen) als Querspanten zu erzielen. Ähnlich wie bei der Flugzeugkonstruktion ging es beim Beach Café um die Reduzierung von Gewicht – jedoch nicht aus statischen Gründen, sondern um Masse und damit Material und Kosten einzusparen.
Im Strandcafé umfasst die Schale die seitlichen und rückwärtigen Wände sowie das Dach als eine zusammenhängende Einheit. Die Südseite ist offen und bildet in Richtung Meer einen langen breiten Schlitz. Bei einer Grundfläche von knapp 230 Quadratmetern ist das Monocoque etwa 40 m lang, 7,00 m breit und bis zu 5,00 m hoch. Heatherwick Studio experimentierte mit Skizzen, Arbeitsmodellen und 3D-Computer-Modelling, um ein optimales Verhältnis von skulpturaler Hülle und nutzbarem Volumen zu erzielen. Schließlich wurde die Kubatur auf eine Struktur aus gekrümmten respektive mehrfach gebogenen Stahlbändern übertragen.
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Mit der Fertigung des Monocoque wurden zwei Handwerker aus Littlehampton beauftragt. Über einen Zeitraum von neun Monaten schweißten sie die etwa 30 bis 36 cm breiten Stahlbänder zusammen, wobei sie die Schale in vier Abschnitte aufteilten. Die so vormontierten Teile wurden anschließend an den Strand transportiert und dort zusammengefügt. Die rostig-braunrote Farbe der Stahlhaut resultiert aus einer natürlichen Patina, die mit einer ölhaltigen Beschichtung versiegelt wurde. Wie bei einer Muschel sind die inneren Oberflächen dagegen hellgrau und weiß gestaltet.
Organisation, Nutzung, Glasfaltwand
Der Eingang liegt in der Mitte des promenadenseitigen und auf das Wasser ausgerichteten Öffnungsschlitzes. Er ist als eine größtenteils verglaste Wand ausgeführt, die aus elf gestuft versetzten Abschnitten besteht, von denen jeweils acht mit einer Glasfaltwand vollständig geöffnet werden können. So lässt sich der Innenraum auf eine südlich vorgelagerte Terrasse erweitern. Die Küche ist zentral angeordnet, um sowohl den Gastraum mit bis zu 75 Plätzen als auch einen Kiosk an der westlichen Stirnseite zu bedienen. In der östlichen Stirnseite befinden sich die Sanitärräume.
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Die jeweils dreiteiligen Faltwandelemente der Glasfront verschwinden im geöffneten Zustand in den seitlichen Wandvorlagen. In den Boden versenkte Führungsschienen gewährleisten barrierefreie Ein- und Übergänge ohne Stolperschwellen. Die verdeckt eingearbeiteten Beschläge lassen sich mit einer Hand bedienen, die Farbe der Profile in RAL 5011 matt ist auf den hellgrauen Epoxidharz-Boden und die weiß gestrichenen Wand- und Deckenoberflächen abgestimmt. Jeder der elf Abschnitte der Glasfaltwand kann zum Schutz vor Wind, salzhaltiger Luft und Vandalismus mit einem Metall-Rollladen komplett verschlossen werden. Die Kästen sind in das Monocoque integriert.
Das East Beach Café in Littlehampton zeigt, dass selbst bei sehr
knappen Budgets durch mutige Experimente und disziplinübergreifende
Denk- und Arbeitsweisen außergewöhnliche Architektur entstehen
kann. -sj
Bautafel
Architektur: Heatherwick Studio, London
Projektbeteiligte: Peter Ayres (Projektleiter), Fred Manson, Virginia Lopez Frechilla, George Thomson, Jem Hanbury, Adelina Iliev (Projektteam Heatherwick Studio); weitere Mitarbeiter und Firmen: AMA Consulting, Adams Kara Taylor, Advance Screeding, Alan Clayton Design, Boxall Sayer, Chant Electrical, D10 Engineering, Langridge Developments, Into Lighting, Littlehampton Welding, Janet Turner, RBC, Renotherm, Ron Packman, Rustington Windows, Solarlux, Melle Glas-Faltwand SL 80)
Bauherr*in: privat
Fertigstellung: 2007
Standort: Littlehampton, West Sussex
Bildnachweis: Andy Stagg, London, über Heatherwick Studio; Heatherwick Studio, London; Solarlux, Melle
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