Verwaltungssitz der Firma B. Braun in Melsungen

Absturzsichernde, kaltgebogene Verbundsicherheitsgläser

Eine ehemalige Lungenheilanstalt etwas außerhalb der hessischen Kleinstadt Melsungen dient dem Medizintechnikhersteller B. Braun seit den 1970er-Jahren als Bürogebäude, Forschungseinrichtung und Schulungszentrum. Nach einer Komplettsanierung und Erweiterung im Jahr 2017 durch das Architekturbüro Orange Blue, bietet der historische Gebäudekomplex nun Platz für 200 Mitarbeiter auf rund 10.000 Quadratmetern Nutzfläche.

Der Umbau des historischen Gebäudekomplexes erfolgte nach Plänen des Architekturbüros Orange Blu building solutions aus Stuttgart
Herzstück des Gebäudes ist eine extravagante Wendeltreppe im Atrium
Der Entwurf für die viergeschossige Wendeltreppe stammt vom Mailänder Architekturbüro Il Prisma

Herzstück des Gebäudes ist das neu geschaffene Atrium, für das die Mailänder Architekten Il Prisma eine extravagante Wendeltreppe entwarfen. Helixförmig schraubt sie sich vier Geschosse hoch bis zum Glasdach und erfährt dabei eine stetige Änderung des Radius bei gleichbleibender Laufbreite. Bei der Konstruktion handelt es sich um einen geometrisch komplexen, nach oben sich aufweitenden Treppenlauf aus Stahl mit Brüstungen aus zylindrisch gebogenem Glas. Darüber spiegelt das Tragwerk des betretbaren Glasdaches die geometrische Verwindung der Treppenkonstruktion wider.

Unterstrichen wird die architektonische Formensprache durch sphärisch gekrümmte Glaselemente, die zur Absturzsicherung zwischen den Geschossen und der Treppe eingezogen wurden. Ursprünglich war vorgesehen, das Glas im Schwerkraftbiegeverfahren thermisch zu verformen. Im Mock-Up zeigte sich jedoch, dass die optische Qualität nicht zufriedenstellend war. Als alternativen Lösungsansatz entschied man sich für das Kaltbiegen, bei dem die ebenen Verglasungen durch Zwängen in die Unterkonstruktion verformt werden. Erst mit diesem Verfahren ließen sich gewünschten homogenen Glasoberflächen ohne Verzerrungen erzielen. Die aufgezwängten Verschiebungen (aus der Glasebene heraus) betrugen dabei bis zu 430 mm. Da es für diese besondere Bauart keine bauaufsichtliche Regelung gibt, wurde eine Zustimmung im Einzelfall durch die zuständige oberste Bauaufsichtsbehörde erwirkt.

Glas

Für das Atrium wurden insgesamt 21 raumhohe absturzsichernde Verglasungen mit Abmessungen von bis zu 4.350 mm x 2.570 mm hergestellt. Alle sind unterschiedlich groß und weisen abweichende Neigungen und Krümmungen auf. Für eine besonders klare Optik wurde ein 3-fach Verbundsicherheitsglas (VSG) aus 8 mm heißgelagerten Einscheibensicherheitsgläsern (ESG) aus Weißglas sowie für die Zwischenschichten klare PVB-Folie gewählt. Da lediglich die unmittelbaren Eckbereiche der Konstruktion über einen Kantenschutz verfügen, wurden die vertikalen Glaskanten in einem CNC Prozess poliert.

Jede Glasscheibe wurde einzeln in detaillierten numerischen Berechnung statisch nachgewiesen. Für die Bestimmung der korrekten Glasdicke waren zwei gegenläufige Effekte zu berücksichtigen: Einerseits führte eine Erhöhung der Glasdicke zu einer Zunahme der Steifigkeit, was eine erhöhte Beanspruchung (Zunahme der Spannungen) infolge der Zwängungsbeanspruchung bewirkte. Andererseits führte eine Verringerung der Glasdicke zu Einschränkungen im Stoß- (Absturzsicherheit) und Resttragfähigkeitsverhalten. Im Rahmen der statischen Berechnung mussten die viskoelastischen (zeitabhängigen) Materialeigenschaften genau erfasst werden, da eine Änderung des Schubverbunds ebenfalls großen Einfluss auf die Beanspruchung der Verglasung hat. Der Einbau der Verglasungen erfolgte auch hierdurch begründet unter definierten Umgebungsbedingungen und zeitlichen Montageabläufen bei gleichzeitiger messtechnischer Überwachung des Oberflächenspannungszustands. Neben den konventionellen statischen Beanspruchungen war die Kaltverformung (Zwängung) der Glasscheiben der bemessungsrelevante Lastfall. Die Rückstellkräfte aus dem Biegevorgang werden planmäßig in die Deckenebenen aus Ortbeton eingeleitet.

Da die Neigungswinkel der Scheiben teilweise größer sind als 10° gegenüber der Vertikalen, waren sie formal als Horizontalverglasung nach DIN 18008-2 Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 2: Linienförmig gelagerte Verglasungen zu klassifizieren. Dementsprechend wäre die Verwendung von Einscheibensicherheitsglas nicht möglich gewesen. In einem komplexen experimentellen Nachweisverfahren konnte jedoch eine ausreichende Absturzsicherheit und Resttragfähigkeit der einachsig spannenden Verglasungen nachgewiesen werden.

Bautafel

Architekten: Orange Blu building solutions (vormals Wilford Schupp Architekten), Stuttgart (Umbau und Erweiterung); IL Prisma, Mailand (Treppe)
Projektbeteiligte:
Glashandel Pritz, Engelskirchen (konstruktiver Glasbau); Thiele, Lossatal/Körlitz (Glaslieferant); Knippers Helbig, Stuttgart (statische Berechnung); SGS Schütz Goldschmidt Schneider, Heusenstamm (sachverständige Beratung und experimentelle Untersuchung); SuP Ingenieure, Darmstadt (unabhängige sachverständige Bewertung); Hark Treppenbau, Bielefeld (stählerne Treppenkonstruktion)
Bauherr:
B. Braun Melsungen
Fertigstellung:
2017
Standort:
Todi-Allee, Stadtwaldpark, 34212 Melsungen
Bildnachweis: Hark Treppenbau, Bielefeld

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