Sitz des Europäischen Rats in Brüssel

Doppelfassade mit alten Holzfensterrahmen aus allen EU-Mitgliedstaaten

Im Brüssel der 1920er Jahre, als der Architekt Michel Polak an der Rue de la Loi den hoch aufragenden Résidence Palace mit Apartments in würdevollem Art Déco realisierte, mag eine europäische Idee schon existiert haben, aber von den Dimensionen der heutigen EU-Institutionen und Verwaltungsbehörden ahnte wohl niemand etwas. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte man den stattlichen Bau als Ministerium und stellte immerhin die Fassaden und Foyers unter Denkmalschutz. Heute gehen hier – und in allen benachbarten Großbauten – Heerscharen von EU-Mitarbeitern ein und aus und der einstige Résidence Palace wird nach einer großmaßstäblichen Erweiterung fortan als Hauptsitz des Europäischen Rats genutzt.

In die Doppelfassade sind rund 3.000 alte und  wieder aufgearbeitete Holzfensterrahmen aus allen EU-Mitgliedstaaten integriert worden
Die Materialität und Struktur erzeugt eine maßstäbliche Verwandtschaft mit der Art-Déco-Fassade des Bestandsbaus
Philippe Samyn entwarf die gläserne Großform als blockfüllende Erweiterung der beiden Flügel des früheren Apartmenthauses Résidence Palace

Den 2004 ausgeschriebenen Wettbewerb hierzu gewann der belgische Architekt Philippe Samyn in einer Kollaboration mit dem italienischen Studio Valle Progettazioni und dem britischen Burohappold. Die beiden Flügel des Palastes galt es zu erhalten und in das Raumprogramm zu integrieren, die Anbauten aus den 1960er Jahren konnten abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Samyn entwarf eine gläserne Großform, die den von beiden Flügeln des Bestandsbaus aufgespannten Raum in Richtung Nordosten ausfüllt und mit zwei Glasfassaden zu einem Block vollendet. Die Hülle umschließt einen vasenförmigen, ebenfalls verglasten Baukörper, der die neuen Funktionen versammelt. Während der historische Gebäudeteil blockinnenseitig erweitert wurde und die etwa 250 Büros der führenden Vertreter der EU-Organe, der Delegationen der Mitgliedstaaten und des Sekretariats aufnimmt, befinden sich im gläsernen Neubau Konferenzräume, Sitzungssäle und ein Pressesaal, bevorzugte Arbeitsbereiche sowie Restaurant- und Empfangsräume.

Durch das hausgroße gläserne Atrium hindurch gelangen die Mitarbeiter zum Fuß des organisch geformten Baukörpers, der wie der Geist im Glas im Märchen der Gebrüder Grimm im orthogonalen Großvolumen eingeschlossen ist. Ausgangspunkt für seine Vasenform sind die verschieden großen, immer auf ellipsenförmigen Grundrissen organisierten Ebenen mit gleicher Hauptachse und gleichem Zentrum. Die Anordnung ansteigend größerer und dann wieder kleiner werdender Säle führt zu der an- und wieder abschwellenden Gesamtform. Die insgesamt sechs Ebenen haben jeweils eine doppelte Geschosshöhe und werden von den angebundenen zwölf Normalgeschossen erschlossen. Über allem, dem Neubau und den historischen Flügeln, sorgt ein wie schwebend scheinender Schirm aus Photovoltaik-Paneelen für eine Stromversorgung durch Sonnenenergie.

Fassade
Die Hülle des neuen Ratssitzes ist als frei stehende Doppelfassade konstruiert mit einer außen liegenden Sekundärfassade, die lediglich einen ersten thermischen und akustischen Schutz darstellt. Dies gab den Architekten die Freiheit, die äußere Fassade jenseits von energetischen (EU-) Richtlinien in besonderer Weise auszubilden und zu gestalten: Sie ist eine Collage aus fast 3.000 alten Eichenfensterrahmen mit Einfachverglasungen, die wie ein grafisches Muster über- und nebeneinander gefügt sind. Die Rahmen sind eine eigens zusammen getragene Sammlung aus allen EU-Mitgliedstaaten, einige Exemplare sind rund 250 Jahre alt. Sie wurden aufgearbeitet, auf eigene Stahlrahmen montiert und der ebenfalls stählernen Tragstruktur der Fassade befestigt. Mit einem Abstand von 2,70 Meter bilden dann innenseitig montierte Dreifach-Verbundsicherheitsgläser die Primärfassade, die in diesem Fall auch schusssicher ist.

Einmal abgesehen von dem nicht unerheblichen Herstellungsaufwand erzeugt die relativ funktionsbefreite äußere Fassadenschicht eine feingliedrig-maßstäbliche Struktur, warme Materialität und Farbigkeit, die eine gewisse Verwandtschaft mit den strengen, geschlosseneren Art-Déco-Fassaden und ihren dreiteiligen französischen Fenstern schafft. Gleichzeitig ist sie nicht frei von Anspielung und kritischem Zweifel: Die immer strenger werdenden EU-Bestimmungen zum Energiesparen haben zur Folge, dass in unzähligen Gebäuden überall in Europa die alten Fenster ausgetauscht werden müssen. Die Folge ist in der Regel die Vernichtung von Material und solidem Handwerk, das Jahrhunderte ordentliche Dienste leistete. Energetisch sanieren schont und vernichtet Ressourcen.

Bautafel

Architekten: Philippe Samyn & Partners architects & engineers, Brüssel mit Studio Valle Progettazioni, Rom; Buro Happold Limited engineers, London
Projektbeteiligte: Buro Happold, London mit Ingenieursbureau Meijer, Edegem (Tragwerk); Buro Happold, London mit Flow Transfer Internationnal, Brüssel (Gebäudetechnik); Georges Meurant, Brüssel (Künstler)
Bauherr: Council of the European Union, Brüssel
Fertigstellung: 2015
Standort: Rue de la Loi, Wetstraat 155, 1048 Bruxelles, Belgien
Bildnachweis: © Philippe Samyn & Partners architects & engineers, Brüssel; Studio Valle Progettazioni, Rom; Buro Happold Limited engineers, London; Thierry Henrard, Brüssel; Quentin Olbrechts, Belgien; Marie-Françoise Plissart, Brüssel; © Georges Meurant, Brüssel für die farbige Gestaltung der Böden und Decken

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