Kantgarage in Berlin
Re-Use einer Hochgarage
Die Kantgarage, manchmal auch Kantgaragen-Palast genannt, ist ein Paradebeispiel dafür, wie wechselhaft die Geschichte eines Hauses im Berlin des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sein kann. Die Veränderungen, mit denen das Bauwerk unmittelbar verbunden ist, betreffen unterschiedlichste Parameter – Gesellschaft und Kultur, Politik wie Ökonomie, die Symbolik des Gebäudes hinsichtlich der Themen von Mobilität und technischem Fortschrittsglauben und auch die heute geradezu liebevolle Wertschätzung durch die globale Architektur- und Design-Community; in visueller Hinsicht als Location für Romane und Filme. Und schließlich das intelligente Re-Use der Hochgarage.
Kantstraße in Berlin-Charlottenburg
Die nach dem deutschen Philosophen Immanuel Kant benannte Kantstraße verläuft als Parallelstraße zum Kurfürstendamm durch Charlottenburg, einer seit der Jahrhundertwende etablierten wohlhabenden und bildungsbürgerlichen Wohngegend. Ein Automobil war nicht nur eine kostspielige Anschaffung, sondern auch ein Symbol für Status im Sinne von Aufgeschlossenheit gegenüber Technik, Geschwindigkeit, Mobilität und Emanzipation. Diese Art des vielseitigen Aufbruchs versinnbildlicht beispielsweise das Selbstporträt der Malerin Tamara de Lempicka in einem grünen Bugatti aus dem Jahr 1929.
Hochgarage mit Boxen und Doppel-Helix-Betonwendelrampe
Im selben Jahr ließ der Ingenieur und Geschäftsmann Louis Serlin an der Kantstraße eine Hochgarage errichten, um den in der Nähe wohnenden Besitzern von Automobilen mietbare Unterstellplätze für die teuren Automobile anzubieten. Seine Idee machte hinsichtlich der Funktion und Wirtschaftlichkeit Sinn: Auch wertvolle Reitpferde werden in Boxen gehalten und gepflegt. Insofern liefert das Vorbild eines Pferdestalls auch Anregungen für die Integration von Tankstelle und Werkstatt für Reparaturen, Reinigungen und Polituren. Die Architekten Hermann Zweigenthal und Richard Paulick in Zusammenarbeit mit Lohmüller Korschelt & Renker errichteten das Haus für Automobile als Eisenbeton-Skelett mit einer befahrbaren Doppel-Helix-Betonwendelrampe. Für diese ungewöhnliche vertikale Erschließung, bei der sich die hinauf- und hinabfahrenden Automobile nicht begegnen können, soll das Treppenhaus im französischen Château de Chambord Pate gestanden haben.
Die mit Falt-Drehtüren abschließbaren sogenannten Heinrich-Boxen, benannt nach der Herstellerfirma in Tempelhof, verteilen sich auf fünf Geschosse zuzüglich eines Untergeschosses und einer späteren Aufstockung. Die Fassade zur Kantstraße und die rückwärtige Seite zur Bahntrasse sind mit einer filigranen gläsernen Vorhangfassade versehen, hofseitig sind die Dachschrägen ebenfalls verglast und seitlich stehen teilweise Brandwände. Das innovative Haus wurde 1930 eröffnet, erregte sofort Aufsehen und war ein voller Erfolg. Ursprünglich soll es bis zu 400 Automobile beherbergt haben.
„Arisierung”, Flucht, Eigentümerwechsel, Verfall
Um 1940 wurde die Kantgarage zwangsenteignet und einem
Geschäftsführer der Kraft-durch-Freude-Werke übertragen. Der
jüdischen Familie Serlin gelang die Flucht über Chile in die USA.
Die in Deutschland zurückbleibende Großmutter wurde in
Theresienstadt ermordet.
Die Kantgarage überstand den Zweiten Weltkrieg lediglich mit Glasschäden und ohne nennenswerte Beeinträchtigung der Tragstruktur. Nach der Reparatur der Fassaden wurde das Haus bis 2016 als Garage mit integrierter Tankstelle und Autowerkstatt genutzt, allerdings mit wechselnden Eigentümern und zunehmendem Verfall. Fassadenprofile und Türen rosteten, das Drahtglas zerbröselte und Graffiti wucherte. Das Haus wurde zu einer Art Lost Place mitten in der Stadt. Zweimal sollte es abgerissen werden, was durch engagierten Protest verhindert wurde. 1991 wurde die Kantgarage unter Denkmalschutz gestellt.
Re-Use mit authentischer Raumwahrnehmung
Der jetzige Eigentümer hat die Kantgarage in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz als Re-Use zu einem Geschäftshaus mit Event- und Galerienutzung sowie einem angeschlossenen Hotelneubau umgestaltet. Das Architekturbüro Nalbach + Nalbach hat sich dabei an Potenzial und authentischer Raumwahrnehmung der lichten und weiten Hallen orientiert, die vielfältige Nutzungen zulassen.
Neue Sachlichkeit als Programm
Weiß als die Farbe der Neuen Sachlichkeit ist wieder die
vorherrschende Farbe, wobei der sachlich-reduzierte Charakter noch
durch den Verzicht auf jegliche Verkleidungen und eine sichtbar
belassene technische Infrastruktur verstärkt wird.
Die Rampenhelix ist heute begehbar und als kreisrunder Art Walk à la Guggenheim New York inszeniert. Die hintere vormals offene Fluchttreppe mit einer Reling als Geländer wurde mit einem weißen Stahlnetz als baurechtliche und sicherheitstechnische Verbesserung umschlossen.
Metallene Falt-Drehtüren
Knapp 130 der ursprünglichen Heinrich-Boxen sind erhalten und wurden nun ebenfalls restauriert. Diese raumhohen Boxen lassen sich mit Segmenten von Falt-Drehtüren über Führungsschienen im Boden und an der Decke schließen. Die Segmente bestehen aus Metallblechen, die rückseitig mit sichtbar belassenen Stegen ausgesteift sind. Sie haben die Anmutung von industrial shabby chic und dienen heute der Präsentation von ausgewähltem Mobiliar und Designobjekten.
Restaurierte und ergänzte gläserne Haut
Die filigrane Vorhangfassade an der Nordseite, die durch zwei Felder aus hellbeigen Klinkern rhythmisch gegliedert ist, war zwar schadhaft, aber noch vollständig. Für ihre Rettung wurden alle Elemente dieser Fassade demontiert und fachgerecht restauriert. Die Felder wurden anschließend mit transluzentem historischen Drahtglas als Einfachverglasung ausgefacht. Die bauphysikalische Anpassung an heutige Anforderungen erfolgt über eine neue zweite Glashaut im Inneren. Diese zusätzliche Haut orientiert sich geometrisch an den Pfosten, Riegeln und Öffnungsflügeln der äußeren Fassade und tritt damit visuell zurück. Der Zwischenraum zwischen diesen beiden Glas- und Fensterebenen wird als thermischer und akustischer Schutz wirksam, da die Kantstraße eine stark befahrene und laute Straße ist.
Pfosten-Riegel-Raster mit geschwungenen Ecken
Die ebenfalls sehr filigrane Glashaut an der Südseite war im Vergleich zur Nordfassade sehr stark beschädigt. Sie sollte vollständig ersetzt werden, jedoch unter Beibehaltung des Rasters der Glasfelder mitsamt den beiden als Viertelkreise geschwungenen Ecken.
Durch sehr sorgfältige Detaillierung gelang es, eine nahezu identische visuelle Übereinstimmung zu erzielen. Die Kontur der Pfosten- und Riegel-Profile wurden dazu in den Ansichtsbreiten nachgezeichnet, nachgebaut und lediglich in der Tiefe für die Halterung einer Zweifach-Isolierverglasung verstärkt. Die neue Glas-Stahl-Haut erfüllt die heutigen bauphysikalischen Anforderungen, insbesondere an Schallschutz in der unmittelbaren Lage an den Bahngleisen, gleicht aber von außen wie von innen erstaunlich der ursprünglichen Konstruktion. Zusätzlich wurden einige der Glasfelder als Öffnungsflügel zum Lüften konstruiert.
Die Südfassade der Kantgarage war bisher auf legalem Weg nicht zugänglich und nur kurz im Vorbeifahren aus Zugfenstern wahrnehmbar. Diese elegante gläserne Fassade, die Reminiszenzen an ähnliche Gebäude der Neuen Sachlichkeit und des Bauhauses weckt – etwa zur Fassade des Bauhauses in Dessau oder zur ähnlich legendären Intourist-Hochgarage von Konstantin Melnikov in Moskau – wird nun erlebbar. Das rückwärtige Garagentor wurde zu einer zweiflügeligen Tür umgebaut, die sich zu einer neu angelegten Terrasse zwischen Gleisböschung und Fassade öffnet. Die Nutzung durch Gastronomie ist an einem Ort mit derart hoher urbaner Aufenthaltsqualität naheliegend.
Dachgeschoss, Baulücke und Hotel
Das Dachgeschoss wurde zu einer lichtdurchfluteten Wohnung mit einer privaten Dachterrasse umgewandelt. Die Familie Serlin selbst hatte direkt angrenzend an die Hochgarage in einer 1895 errichteten Villa gewohnt, deren Garten bereits mit der Garage überbaut worden war. Die Villa wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. In dieser schmalen Lücke befand sich seitdem ein provisorischer Flachbau mit einer Autowerkstatt. Das Provisorium wurde abgerissen und durch einen Hotelneubau mit 61 Zimmern ersetzt. Die neue Nutzung der Garage als Galerie- und Eventhaus ist inhaltlich mit dem Hotel verbunden.
Graue Energie, kulturelle Identität, Reclaim und
Re-Use
Die Kantgarage gilt weltweit als ein einzigartiges Beispiel für
eine Hochgarage aus der Zeit der Neuen Sachlichkeit und des
Bauhauses. Der sorgfältige und respektvolle Umgang mit diesem Haus
und dessen Rettung zeigen als sogenanntes Reclaim, dass Architektur
nicht nur ein wirtschaftlich-funktionaler Faktor, sondern
Bestandteil der kulturellen Identität ist. Zugleich verdeutlicht
das Re-Use mit dem umfangreichen Erhalt der Originalsubstanz, dass
eine ressourcenschonende Weiterverwendung von grauer Energie, also
eine Weiternutzung der Primärenergie auch nach fast 100 Jahren
machbar ist. -sj
Bautafel
Architektur Bestand 1929/30: Hermann Zweigenthal und Richard Paulick in Zusammenarbeit mit Lohmüller Korschelt & Renker, Berlin
Architektur Sanierung und Umbau: Nalbach + Nalbach Architekten, Berlin
Bauherr Bestand 1929/30: Louis Serlin, Berlin
Bauherr*in Sanierung und Umbau: Gädeke & Sons, Berlin
Nutzer: Stilwerk Hotel KantGaragen Berlin
Fertigstellung Bestand: 1929
Fertigstellung Sanierung und Umbau: 2022
Standort: Kantstraße 127, 10625 Berlin
Bildrechte: Nalbach + Nalbach Architekten, Berlin; Diephotodesigner Ken Schluchtmann, Berlin, über Nalbach + Nalbach Architekten