Zentralbibliothek in Calgary

Grafische Aluminium-Glasfassade

Mal junge Frau, mal schrullige Alte, eben noch Blumenvase, plötzlich zwei sich betrachtende Gesichtsprofile – Kippbilder versetzen Kinder und Erwachsene gleichermaßen ins Staunen. Der Stapel aus geschichteten Würfeln – mal sieht man ihn von oben, mal von unten – funktioniert als Kippbild nur, wenn dieses ganz regelmäßig aus nur drei wiederkehrenden Rauten aufgebaut ist. An der Fassade der neuen Zentralbibliothek im kanadischen Calgary haben Snøhetta Architekten das altbekannte Motiv verfremdet. Die Hülle aus Glas und hellem Aluminium erzeugt so zwar keinen 3D-Effekt, sondern wirkt grafisch, flächig. Ein Blickfang ist das 22.000 Quadratmeter große Gebäude – Calgarys größte öffentliche Investition seit den Olympischen Winterspielen 1988 – aber trotzdem. Zumal es im Minutentakt Straßenbahnen verschluckt und ausspuckt.

Der Neubau zwischen Downtown und East Village überwindet mit einer Passage die einstige Barriere des in den Untergrund führenden Gleisbogens.
Die Deckenuntersicht der Passage ist in Zedernholz gehalten. Die darüberliegende Fassade arbeitet mit gezielten Störungen in einem hexagonalen Muster.
Die assoziationsreiche Fassadengliederung erinnert u.a. an aufgeschlagene Bücher, Schneekristalle oder aneinander gebaute Häuser.

Eingebunden in städtische Infrastruktur

Der Neubau steht über einem zweigleisigen Stadtbahnbogen, der im Rücken der City Hall halbmondförmig in den Untergrund führt. Hier existierte bislang eine unattraktive Restfläche, auf der Autos parkten – eine Barriere zwischen Downtown und East Village, die die sechsgeschossige Bibliothek nun überwunden hat. Ihre Großform macht sich die Situation zu Nutze, und aus der Not eine Tugend: Der Gleisbogen ist nach Westen gespiegelt und zum spitzelliptischen Grundriss ergänzt, der sich über alle Geschosse zieht – bis zum augenförmigen Oberlicht im zentralen Atrium. Das südöstliche Viertel dieser Spitzellipse ist ein Stück weit aufgeklappt, wodurch eine zwar schlanke, aber doch flächige Südfassade gebildet wird.

Dagegen zeigt der Bau nach Norden eine schiffsbugartige Gebäudekante, die sich zur Glasspitze der benachbarten City Hall gesellt hat. Während an dieser Stelle die Stadtbahn nun eingehaust in den Untergrund führt, öffnet sich das darüberliegende Gebäude nach beiden Seiten hin über die großflächige Verglasung des zurückgesetzten, ersten Obergeschosses. Über Rampen und Treppen werden Passanten und Besucher zwischen neu angepflanzten Ulmen und Espen auf Ebene plus Eins gebracht. Hier ist eine überdachte Vorzone geschaffen, die sowohl den Eingangsbereich der Bibliothek markiert als auch eine Passage über die Gleise bietet. Die Zedernholz-Deckenuntersicht dieser offenen Übergangszone ist indirekt beleuchtet und endet nach weitem Schwung im Fußpunkt der südwestlichen Gebäudekante. Inspiriert ist diese Überdachung vom Chinook-Wolkenbogen, einem regional typischen Wetterphänomen.

Raumprogramm für alle Generationen

Die Zedernholzdecke setzt sich im Gebäudeinneren fort. Im luftigen Atrium sind außerdem nicht nur die Böden holzsichtig, sondern auch die Brüstungen und Treppenuntersichten, die sich wie eine große bandartige Skulptur nach oben ziehen und in der Einfassung des prägnanten Oberlichtauges münden. Dieses markiert das Zentrum und schafft Orientierung im Gebäude. Jenseits des Atriums wurden die Betonelemente der Mischkonstruktion sichtbar belassen. Je weiter man sich nach außen und nach oben bewegt, dominiert zunehmend das Spiel von Weiß- und Glasflächen der Fassade.

Im Spektrum von „U“ und „E“ sind die leichteren, lebendigeren Unterhaltungsangebote untergebracht, so zum Beispiel die Kinderabteilung mit Spiel- und Bastelbereichen. Dagegen befinden sich anspruchsvollere Inhalte, die ein konzentriertes Studium erfordern, in den ruhigeren Zonen der oberen Geschosse. Dazu gehört auch der große Lesesaal mit Holzverkleidung und Oberlicht, dessen Oval in ein Rechteck eingeschrieben und über vier Zwischenzonen an den Ecken erreichbar ist. Das Raumprogram umfasst aber auch eine Musikbühne, einen großen Aufführungssaal mit aufsteigenden Sitzreihen, rund 30 Besprechungsräume, frei zugängliche Aufnahmestudios, nutzbar u.a. für Blogger, Gaming-Bereiche für Videospiele, ein Café, einen „Community Living Room“ an der Nordspitze der obersten Ebene sowie zahlreiche weitere Sitzbereiche und Leseplätze.

Fassade: Eisblume, Berg und Corporate Identity

Die dreifach verglasten, weißen Aluminiumfassaden sind trotz – oder gerade wegen ihrer konsequent gestörten hexagonalen Gliederung sehr assoziationsreich. Immer wieder enden einzelne Diagonalen nicht in den Spitzen, sondern treffen mitten auf die gegenüberliegende Linie. Zudem sind die Flächen des Musters unregelmäßig mit klarem und mattem Glas sowie mit Aluminium ausgefüllt, das in diffusem Licht weiß scheint. In der Sonne jedoch schimmert es leicht irisierend, entlang der gekrümmten Fassade. Dadurch entsteht eben keine 3D-Würfeloptik, sondern einzelne Elemente erinnern an kleine, aneinander gebaute Häuser mit Giebelflächen und die Strukturen an Astwerk, Schneekristalle oder Eisblumen.
 
Man mag an Schneesturm und an weiße Berggipfel Kanadas denken – oder auch Norwegens: Der Büroname Snøhetta leitet sich von Norwegens höchstem Berg ab. Fast scheint es, als sei auch das zackige Bürologo in die Fassadenoptik eingeflossen, die viele Deutungen zulässt. Die für eine Bibliothek naheliegendste ist wohl die einer Landschaft aus aufgeschlagenen Büchern. Die Calgary Public Library hat aus dem Fassaden-Pattern ihr neues Logo abgeleitet: ein sechseckiges Signet, das neben offenen Büchern und einem Schneekristall auch an ein nach allen Seiten hin offenes Netz denken lässt und somit auch die digitale Dimension einschließt.
 
Der Mix aus transparenten, matten und geschlossenen Fassadenflächen hat aber auch praktische, genauer gesagt bauphysikalische Hintergründe: Auf diese Weise lässt sich in den unterschiedlichen Bereichen des Gebäudes je nach Bedarf der Tageslichteinfall anpassen. Der vergleichsweise geringe Glasflächenanteil reduziert zudem die Aufheizung und spart damit Kühlkosten. Montiert wurden die vorgehängten Fassaden in Form von geschosshohen, stehenden Rechteck-Elementen, deren Raster auch in der irregulären Hexagonalstruktur noch ablesbar ist. -js

Bautafel

Architekten: Snøhetta, Oslo/New York (mit DIALOG, Calgary)
Projektbeteiligte: Snøhetta (Entwurf, Freiraumplanung, Innenarchitektur, Einrichtung, Ausstattung, Signaletik), DIALOG (Gebäudemechanik, Bauleitung und Ausführungsplanung Freiraum), Entuitive, Calgary (Tragstruktur), SMP Engineering, Calgary (Elektrik/Beleuchtung), McSquared System Design Group, Calgary (IT/AV), Stuart Olson, Calgary (Generalunternehmer)
Bauherr: Calgary Municipal Land Corporation (CMLC)
Fertigstellung: 2018
Standort: 800 3 Street Southeast, Calgary, AB T2G 0E7, Kanada
Bildnachweis: Michael Grimm, New York

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Isolierverglasungen in verschiedenen Ausführungen Hauptbahnhof Berlin, Architekten: von Gerkan, Marg und Partner Architekten (gmp)

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Glas

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