Schatten als Gemeingut

Leseempfehlung Places Journal

„Im Schatten kehren überhitzte Körper ins Gleichgewicht zurück. Die Durchblutung verbessert sich. Die Leute denken klar. Sie sehen besser. In physiologischer Hinsicht sind sie wieder sie selbst.“

Als Schattenspender nutzt die in Los Angeles allgegenwärtige Palme leider wenig.

Gerade in Innenstädten ist die Gefahr der Systemüberhitzung groß: Wenig Grün, viel Beton und eine hohe Bevölkerungsdichte befördern die Entstehung von Hitzeinseln, die sich über Nacht nicht ausreichend abkühlen. In einem umfassenden Beitrag für das Places Journal stellt der Journalist Sam Bloch, von dem das Zitat am Anfang dieses Beitrags stammt, einen frappierenden Mangel an Schatten in seiner früheren Heimatstadt Los Angeles fest. Schatten, so Bloch, sei in der Metropole am Pazifik zu einer kostbaren Ressource geworden, deren Verfügbarkeit in den verschiedenen Quartieren der Stadt an den Wohlstand der Bewohner gebunden ist. Er fordert darum die Anerkennung der Ressource Schatten als Gemeingut, dessen Bereitstellung, wie bei Wasser oder Elektrizität, Teil der Stadtplanung sein sollte.

Die Privatisierung des Schattens
Der Autor zeichnet in seiner Bestandsaufnahme des heutigen Los Angeles das Bild einer Stadt, in der draußen zu sein zunehmend zu einer Gefahr für die Gesundheit wird, weil es kaum Orte gibt, an denen man sich vor der brütenden Sonne schützen kann. Grund dafür sind gesetzliche Bestimmungen, die die Installation schattenspendender Maßnahmen erschweren. Will man ein Sonnendach installieren oder einen Baum pflanzen, so gerät man in Konflikt mit Gesetzen, welche dem Schutz der Barrierefreiheit dienen oder die Zufahrt zu privaten Garagen gewährleisten. Versorgungsleitungen sind so flach unter der Erde verlegt, dass sie in Mitleidenschaft gezogen werden würden. Schatten, so Bloch, wurde in der Stadtplanung vielerorts schlichtweg nicht vorgesehen. In vielen Gegenden ist Schatten regelrecht illegal.

Ein weiteres Problem ist, dass sich das Stadtmobiliar zu großen Teilen im Besitz von Privatfirmen befindet, die sich auch um dessen Erhalt kümmern. Dies ist etwa bei Bushaltestellen zu beobachten, die einen wichtigen Schutz gegen Witterung darstellen. Darüber hinaus dienen sie als Werbeflächen, mit denen ihre Besitzer Geld verdienen. In wohlhabenden Gegenden zahlreich und gut gepflegt, sind sie dort, wo wenig Kaufkraft zu erwarten ist, heruntergekommen oder fehlen ganz.

Überhaupt gibt es Schatten im Überfluss in Los Angeles nur in reichen Gegenden – der Blick auf Satellitenbilder verdeutlicht dies. Hancock Park, eine der vornehmsten Gegenden der Stadt, hebt sich als dunkelgrüne Fläche ab, umgeben von einem Meer aus Grau und Braun. Bushaltestellen sind intakt, luxuriöse Einkaufsstraßen und elegante Restaurantterrassen werden durch Markisen beschattet, ausladende Feigenbäume mit dichtem Blattwerk säumen die breiten Bürgersteige. Im Gegensatz dazu sind in ärmeren Wohnlagen Spielplätze, Parkplätze und weite Straßen fast vollkommen baumfrei. Zu allem Überfluss befördert eine nachlässige Schattenplanung auch das motorisierte Verkehrsaufkommen, denn der Schritt ins Auto bedeutet auch die Flucht vor Hitze und Sonne.

Verdrängung des Schattens im 20. Jahrhundert
Doch warum konnte ausgerechnet in einer der sonnenreichsten Städte der USA ein solcher Mangel an Schatten entstehen? Beim Blick auf die Stadtgeschichte stellt Bloch fest, dass es die marktwirtschaftlichen Interessen und politischen Entscheidungen des 20. Jahrhunderts waren, die dazu geführt haben. Die Verbannung des Schattens aus dem Stadtbild nimmt mit der großflächigen Versorgung durch Strom und der günstigen Verfügbarkeit von elektrischer Kühlung und Heizung in den 1930er-Jahren ihren Anfang. Bis dahin war Schatten Teil jeder städtischen Planung. Da die Klimaanlage Abkühlung auf Knopfdruck erlaubte, geriet Schatten als lebensnotwendige Ressource in den Hintergrund. Los Angeles wuchs zu einer flach bebauten Metropole, deren Bewohner die Sonne anbeten. Noch immer sind Gesetze in Kraft, die das Bauen in die Höhe weitestgehend verbieten, um die Beschattung umliegender Grundstücke zu verhindern. 

Einen der fatalsten Fehler sieht Bloch jedoch in der misslungenen Baumpolitik der Stadt. Die riesigen, uralten Feigenbäume, die in Stadtteilen wie Hancock Park für so viel Schatten und frische Luft sorgen, könnten flächendeckend existieren. Das jedoch verhindert ein Beschluss aus den 1930er-Jahren, nach dem die Pflege des öffentlichen Grüns den jeweiligen Bewohnern der angrenzenden Privatgrundstücke obliegt. Folglich ist der Erhalt des kostbaren Baumbestands nur dort möglich, wo sich Bewohner ihre Pflege leisten können. Viele Gegenden verwüsteten regelrecht. Noch heute sind ehemalige Standorte der raumgreifenden Feigenbäume vielerorts als rechteckige Brachflächen am Straßenrand erkennbar, sofern diese nicht längst in Parkraum umgewandelt wurden. Zum ikonischen Baum der Stadt wurde stattdessen ausgerechnet die Palme, eine pflegeleichte Pflanze, deren Nutzen für eine großflächige Verschattung mit dem eines Telefonmasten vergleichbar sei, so Bloch wörtlich.

Nicht zuletzt wurde Schatten zugunsten einer besseren Überwachung, etwa durch Kameras, geopfert. Und auch das hat eine lange Geschichte: So war der Rückbau von Schattenspendern in Parks, wie etwa von Bäumen, Teil einer langfristigen Strategie, „düsteren“ Machenschaften – dazu zählten „gay cruising“, Drogenhandel und Beschaffungskriminalität – langfristig den vor Blicken geschützten Raum zu nehmen. 

Schatten als Gemeinwohl
Um Los Angeles als bewohnbaren Ort zu erhalten, fordert Bloch die Anerkennung von städtischem Grün als Gemeinwohl, dem ein größerer Wert zukommen und dessen Erhalt und Pflege nicht in privater Hand liegen sollte. Planungsregeln sollten sich grundlegend zugunsten der Erzeugung von Schatten ändern. Er führt ein Beispiel an, das verdeutlicht, auf welche Weise sich aktuelle Vorschriften negativ auswirken. Demnach gelten beschattete Flächen in Los Angeles im Grundbuch als bebaute Flächen. Da die zur Bebauung freigegebene Grundfläche pro Grundstück streng reglementiert ist, muss jede offene Schattenfläche durch Architektinnen und Architekten ihrer Bauherrschaft gegenüber hart erkämpft werden, da sie effektiv die Wohnflächen verringert. Die Lockerung dieser Regeln könnte den Schattenanteil erhöhen.

Am ehesten aber kann die Anpassung von Planungsregeln für den Straßenraum den Mangel an Schatten beseitigen. So sollte jede künftige Aufwertungsmaßnahme eng an ein umfassendes Programm der Schattenerzeugung gebunden werden. Es könnte die Verbreiterung des Bürgersteigs und die Verlegung aller Versorgungsleitungen in den tieferen Untergrund beinhalten, um Platz zu schaffen für Bäume und Sonnenschutzsysteme, wie etwa Kolonnaden oder Bushaltestellen. Verschattungsarchitekturen sollten zum Standard des Straßenausbaus zählen, wie Parkbänke, Bordsteine oder Straßenlaternen. Um die lange Zeit bis zur Umsetzung dieser Maßnahmen zu überbrücken, sollte die Stadt kurzfristig installierbaren Verschattungsmaßnahmen, wie etwa dem Einsatz von Sonnensegeln, eine höhere Akzeptanz entgegenbringen. Denn letztlich geht es darum, Schatten zu erzeugen, und das ist kein besonderes Kunststück. –Stephan Redeker

Bildnachweis: Baunetz (jb), Berlin

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