Louvre-Lens in Nordfrankreich

Unzählige Schichten aus Glas

Nachdem im September 2012 die Abteilung für islamische Kunst im Pariser Louvre unter einem riesigen geschwungenen Segel aus Glas und Metall erweitert wurde, folgte nur drei Monate später die Eröffnung einer Dependance im nordfranzösischen Lens. Eine überraschende Standortwahl, ist die Stadt doch mit gerade einmal rund 35.000 Einwohnern nicht nur sehr klein, sondern auch eine der ärmsten Frankreichs. Bis zum Ende der 1980er Jahre durch den Steinkohlebergbau geprägt, herrscht hier vor allem eins vor: Perspektivlosigkeit. Die Entscheidung, an diesem Ort, rund 200 Kilometer von Paris entfernt, ein neues Museum zu errichten, zeugt von der Entschlossenheit der Verantwortlichen, der ehemaligen Bergbauregion zu einem Aufschwung zu verhelfen und gleichzeitig die Erinnerung an die geschichtsträchtige industrielle Vergangenheit wachzuhalten.

Für die Fassaden kommen ausschließlich Glas und gebürstetes Aluminium zum Einsatz
Die gläsernen Pavillons in der Empfangshalle bestehen aus zylindrisch gebogenen Scheiben im Format von etwa 2,00 x 3,00 m
Um einen wuchtigen Eindruck zu vermeiden, entschieden sich die Architekten für schlichte Bauformen, eine geringe Höhe und die Beschränkung auf wenige Materialien

Geplant wurde der Louvre-Lens vom japanischen Architekten-Duo Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa von Sanaa. In einem internationalen Wettbewerb konnten sie die Jury mit ihrem Entwurf eines Gebäudekomplexes aus fünf eingeschossigen Baukörpern überzeugen, der sich in die umliegende Landschaft einfügt. Tragwerks- und Fassadenplanung übernahm das Frankfurter Ingenieurbüro Bollinger und Grohmann. Errichtet wurde das Gebäudeensemble auf dem zwanzig Hektar großen Gelände einer seit Langem stillgelegten Zeche, das sich die Natur zurückerobert hatte und das im Zuge der Neubebauung in einen Park umgestaltet wurde. Der „kleine Louvre“, wie das Museum auch genannt wird, ist alles andere als klein: Auf einer Länge von 360 Metern reihen sich die Baukörper aneinander, insgesamt bieten sie eine Nutzfläche von 28.000 Quadratmetern. Weniger als ein Viertel davon wird als Ausstellungsfläche genutzt, der Rest steht für Depots und Büros zur Verfügung.

Um einen wuchtigen Eindruck zu vermeiden, entschieden sich die Architekten für schlichte Bauformen, eine geringe Höhe und die Beschränkung auf die beiden Materialien Glas und gebürstetes Aluminium. In der Aufsicht bilden die Einzelgebäude vier Rechtecke und ein Quadrat in der Mitte. Alle sind sechs Meter hoch und haben leicht gebogene Wände, deren Ecken sich leicht überschneiden. Das im Grundriss quadratische Gebäude beherbergt die Empfangshalle. In ihrer filigranen Struktur dem Glaspavillon des Museums in Toledo, Ohio (siehe Objekte zum Thema) ähnlich, besteht sie aus einer gläsernen Hülle, die von extrem schlanken Rundstützen getragen wird. Locker über den großen Innenraum verteilen sich gläserne Rundräume, die u.a. als Buchladen und Cafeteria, als Informationsschalter und Ticketausgabe genutzt werden. Ähnlich einem gläsernen Labyrinth blicken die Besucher in oder vor der Halle stehend, durch unzählige Schichten aus Glas. Im Untergeschoss befinden sich neben Sanitärräumen, Garderoben und Technik ein Depot und Werkstätten. Eine große Glasfront erlaubt den Blick in einige der unterirdischen Räume.

Beidseitig des zentralen Eingangsgebäudes schließen die Ausstellungshallen an. Auf der Südost-Ecke liegt die Grande Galerie, rund 3.000 m² groß und das eigentliche Herz des Museums. Hier sind einzelne Kunstwerke des Pariser Haupthauses untergebracht, deren Entstehungszeit von 3000 v.Chr. bis ins Jahr 1860 reicht. Ihre Zahl beschränkt sich auf 205 Werke, was auch museumsunerfahrenen Besuchern erlauben soll, sich einen Überblick über die verschiedenen Kunstepochen zu verschaffen. Anders als in Paris gibt es in Lens keine räumlichen Einschränkungen; auf die klassische Aufteilung in Abteilungen wird völlig verzichtet. Die offene Halle bietet die Freiheit, sich die Kunst ganz nach Belieben anzuschauen. Hintereinander angeordnet, stehen die Kunstwerke auf Podien oder hängen an weißen, frei im Raum stehenden Wandscheiben. Die leicht gebogenen Seitenwände aus Aluminium bleiben frei und spiegeln schemenhaft die Exponate wider. Gefiltertes Tageslicht fällt über Glasfelder zwischen den Dachträgern in die Ausstellungshalle. Am Ende des Raumes gelangen die Besucher in einen kleineren, wieder verglasten Saal, der drei geschlossene Rundräume für Wechselausstellungen aufnimmt. Nordwestlich der Eingangshalle ist ein weiterer Saal für Wechselausstellungen angeordnet.

Glas im Innenraum
Die gläsernen Pavillons in der Empfangshalle bestehen aus zylindrisch gebogenen Glasscheiben mit Biegeradien zwischen 2,50 m und 8,00 m. Der Aufbau der etwa 2,00 x 3,00 m großen Scheiben besteht aus zwei 12 mm dicken ESG-Scheiben, die zu einem Verbundsicherheitsglas (VSG) laminiert wurden. Der Biegeprozess wurde im Schwerkraftbiegeverfahren durchgeführt. Das Besondere an den Scheiben ist neben der Geometrie die Farbneutralität ohne den glastypischen Grünstich. Dies liegt an dem verwendeten Weißglas, einer Basisglasmischung mit besonders wenig Eisenanteilen. Insgesamt wurden für die Glaszylinder etwa 1.100 m² Glasfläche verbaut. Die Scheiben sind am Fuß auf Bodenniveau eingespannt und am Kopf horizontal gelenkig gelagert. Die Stoßstellen zwischen den Glasscheiben wurden mit einer transparenten Silikonfuge gefüllt.

Glas in der Fassade
Für die Fassadenverglasung kamen zwei grundsätzliche Aufbauten zum Einsatz: Eine Doppelfassade in Teilbereichen der Ausstellungsfläche und eine konventionelle Einfachverglasung. Die aufwendige Doppelfassade war vor allem dort notwendig, wo im Gegensatz zum Foyer nur geringe Toleranzen für das Innenraumklima zulässig sind. Ein im Zwischenraum der natürlich belüfteten Doppelfassade angeordnetes Verschattungssystem aus Lamellen schützt die sensiblen Bereiche vor Sonneneinstrahlung. Der Aufbau der Doppelfassade besteht in der inneren Schicht aus einem zweifach Isolierglas aus 2 x 8 mm Floatglas (VSG) / 16 mm Scheibenzwischenraum / 10 mm Einscheibensicherheitsglas (ESG). Die äußere Ebene besteht aus einem Verbundsicherheitsglas aus 2 x 10 mm VSG aus Floatglas. Aus Gründen der Farbneutralität verwendete man auch hier Weißglas, das Scheibenformat beträgt 6,00 x 1,50 m.

Bautafel

Architekt: Sanaa, Tokio
Projektbeteiligte: Bollinger + Grohmann Ingenieure, Frankfurt am Main/Paris (Tragwerksplanung und Fassadenplanung); Eckelt Glas, Steyr (Glas); Permasteelisa France, Paris (Fassade)
Bauherr: Reginalrat Nord-Pas-de-Calais
Fertigstellung: Dezember 2012
Standort: Rue Paul Bert, Rue Hélène Boucher, 62300 Lens, Frankreich
Bildnachweis: Iwan Baan, Amsterdam; Hisao Suzuki, Barcelona; Sanaa, Tokio; Bollinger + Grohmann, Frankfurt am Main

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