Bürohochhaus Brunel Building in London

Stabile Asymmetrie

Wer steht direkt nach Winston Churchill auf Platz zwei der Liste der 100 bedeutsamsten Briten? Nicht Shakespeare, nicht Darwin, nicht Queen Elisabeth I., sondern der Ingenieur Isambard Kingdom Brunel (1806–59), Chefplaner des Londoner Themsetunnels als weltweit erstem Tunnel unter einem Fluss wie auch der Great Western Railway von London nach Westengland.

Markant ist das außenliegende Stahltragwerk.
Die Tragstruktur besteht aus einem asymmetrisch verzerrten, individuellen Diagonalraster, kurz: Diagrid.
Der Neubau mit dem außergwöhnlichen Exoskelett trägt auch zum urbanen Leben im Quartier am Grand Union Canal bei.

Direkt nordöstlich der 1838 eröffneten Paddington Station in London, dem Ausgangspunkt von Brunels erster Bahnstrecken zwischen London und Bristol, haben Fletcher Priest Architects am Ufer des Grand Union Canal ein siebzehngeschossiges Bürohochhaus mit unregelmäßig gestrecktem Achteckgrundriss fertiggestellt. Es ist nach dem großen viktorianischen Ingenieur benannt: das Brunel Building. Zwar schmückt sich der Neubau mit dem prominenten Namen nicht ganz unbescheiden, stellt aber tatsächlich auch selbst eine bemerkenswerte Ingenieurleistung dar. Aufgrund seines außergewöhnlichen, außen liegenden Stahlskeletts ist er zur neuen Landmarke in dem Quartier gut einen Kilometer nördlich des Hyde Parks geworden, welches geprägt ist von Hallen und Gleisen der Paddington Station, einer Hochstraße über den Kanal sowie spät- und postmodernen Großstrukturen.

Eisenbahnbrücken als Vorbild

Der zusammen mit Arup entwickelte Entwurf mit seinem gitterartigen Tragwerk ist inspiriert von Brunels mehr als 40 Eisenbahnviadukten in Cornwall, die in den 1850er-Jahren aus Kostengründen zunächst in Holz ausgeführt, aber bereits ab den 1870er-Jahren schrittweise ersetzt wurden. Die in fünf Typen unterteilten Holzviadukte hatten als gemeinsames Merkmal Bündel aus Stützen bzw. Fachwerkbindern, die sich baumartig von den Lasteinleitungspunkten aus nach oben verzweigten. Für das Hochhaus wurde das Bild der aufgereihten, spitzwinkligen Verzweigungen in den Stahlbau adaptiert und zu einem unregelmäßig geneigten und asymmetrisch geknickten Diagonalraster – einem individuellen Diagrid – entwickelt.

Stützenfreie Räume

Die Verlagerung der Tragkonstruktion an die Außenseiten resultiert, wie auch die Plattenflachgründung, aus zwei teilweise unter dem Gebäude verlaufenden U-Bahn-Tunneln. Diese Entscheidung führte zugleich zu einer hohen Nutzungsflexibilität mit stützenfreien Räumen um einen zentralen, aussteifenden Betonkern, der zwölf bis sechzehn Meter von der Fassade eingerückt ist. Im Erdgeschoss befinden sich außer der Rezeption eine Bar und ein Restaurant mit Außengastronomie. Vor dem Gebäude ist ein öffentlicher Fußweg entlang des Kanals angelegt worden. Die oberen Geschosse sind entsprechend den Bedürfnissen der Mieter organisiert. Als einer der Hauptmieter beansprucht Sony Pictures nahezu ein Drittel der Flächen. Im vierzehnten Obergeschoss befindet sich eine nach Nordosten ausgerichtete Dachterrasse und im sechzehnten Obergeschoss eine weitere nach Südwesten.

Nachhalktigkeitsaspekte

Ausgestattet ist der Bau mit Grundwasser-Wärmepumpen, die mit einem Aquifer-Wärmespeicher (Aquifer Thermal Energy Store, kurz: ATES) gekoppelt sind. Mehr als 90 Prozent des Baustellenabfalls konnte recycelt werden. Der Beton wurde mit hüttensandhaltigem Zement erstellt, dessen Produktion bereits Primärenergie und CO2-Emissionen reduziert, und der zudem den Beton mit verminderter Reaktionswärme aushärten lässt. Die WC-Spülungen werden mit Grauwasser betrieben und auch der Verzicht auf abgehängte Decken leistet einen Beitrag zur Reduktion von CO2-Emissionen.

Fassade: Vorhangkonstruktion mit Stahl-Exoskelett

Durch das asymmetrisch verzerrte, sturmgraue Exoskelett, das sich wie ein verkantetes Scherengitter über den Bau legt, mag der Eindruck entstehen, die dahinterliegende Glasfassade – ein Aluminium-Curtain-Wall-System – sei vielleicht aus der Vertikalen gedreht oder gar geknickt. Bei näherer Betrachtung stellt sich dies aber als optische Täuschung heraus: Die Fassadenflächen sind eben und auf einem Rechteckraster mit durchlaufenden Brüstungsbändern aufgebaut. Lediglich die Rahmen der 1,50 Meter breiten Verglasungselemente sind geschossweise gegeneinander versetzt. Die Brüstungsfelder bestehen aus ebenfalls sturmgrauen Aluminiumblechen mit einer Perforierung in zwei Lochgrößen, die ­– im Gegensatz zur dynamisch gestauchten Tragkonstruktion – ein dezentes, komplett regelmäßiges Diagonalraster ergibt. An der nordwestlichen Gebäudeschmalseite ist das Stahl-Diagrid nicht vollständig umlaufend, sondern gibt den Blick auf einen Teil der Fassade und den hier vorgezogenen Sichtbetonkern frei. An dieser Seite wird auch der Höhenversatz zwischen fünfzehngeschossigem Nordost-, siebzehngeschossigem Südwestteil und dem dazwischenliegenden, noch höheren Betonkern anschaulich.

Die einzelnen Fassadenelemente wurden von innen montiert und können so auch leichter unterhalten oder ggf. ausgetauscht werden. Sämtliche Durchdringungspunkte von Skelett und Hülle wurden – wie auch die Südspitze des Diagrids vor dem Haupteingang – mit orangener Signalfarbe markiert. Doch neben dieser rein optischen Hervorhebung haben sie in ihrer Detaillierung auch besondere Aufmerksamkeit durch die Fassadenplaner von Arup erfahren. Die Träger verjüngen sich an diesen Punkten. Gemeinsam mit den schlank gehaltenen und sichtbar belassenen Deckeninstallationen bei fast 3,50 Meter Raumhöhe begünstigt dies den Lichteinfall in die Gebäudetiefe hinein. Umgekehrt übernimmt aber die außen liegende Tragkonstruktion zu einem Anteil von zwanzig Prozent auch eine Sonnenschutzfunktion. Zusätzlich können die Räume über graue, innen liegende Rollos verschattet werden.

2020 erhielt das Brunel Building einen Fassadenpreis vom Council on Tall Buildings and Urban Habitat, dem am Illinois Institute of Technology in Chicago angesiedelten Rat für hohe Gebäude und städtischen Lebensraum (CTBUH).

Bautafel

Architektur: Fletcher Priest Architects, London/Köln/Riga
Projektbeteiligte: Arup, London (Tragstruktur, Fassade); Cundall, London (M&E-Gebäude- und Geotechnik); Arcadis, Amsterdam (Kostenplaner); Gardiner & Theobald, London u.a. (Projektmanager); Jackson Coles, London/Milton Keynes (Sicherheitsberatung), MLM, London (Gebäudeinspektion), Laing O’Rourke, Dartford (Hauptauftragnehmer), Plincke Landscape Architects, London/Manchester/Dunchurch, Barton Willmore, London u.a. (Landschaftsplanung)
Bauherrschaft: Derwent London plc
Fertigstellung: 2019
Standort: 2 Canalside Walk, Paddington Basin, London, W2 1DG, Großbritannien
Bildnachweis: Fletcher Priest Architects, London/Köln/Riga

Fachwissen zum Thema

Die wichtigen Linien der Fassadengestaltung basieren unter anderem auf den Maßen des menschlicher Körper, statischen Erfordernissen und Baustandards.

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Grundlagen

Raster, Module und Maßordnung

Inkunabel der Architekturgeschichte: Das Bauhaus in Dessau mit Vorhangfassade, Architektur Walter Gropius, Baujahr 1926

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