Museum und Informationszentrum in Scharnitz
Hölzernes Bergteleskop
Im Oktober 2019 öffnete das Naturpark-Informationszentrum Scharnitz seine Tore für die Besucher. Die von Tourismus geprägte Ortschaft an der Isar bildet das westlichen Tor zum Karwendel: Mit dem Karwendel-, Hinterau- und dem Gleirschtal beginnen dort gleich drei wichtige Täler des Bergmassivs. Dementsprechend ist die Gemeinde mit ihren rund 1.300 Einwohnern Ausgangspunkt zahlreicher Wanderer und Mountainbiker für ihre Touren. Zugleich ist das neue Informationszentrum Teil des Anfang 2020 abgeschlossenen bayerisch-österreichischen Interreg-Projektes „Wege des Holzes“. Mit diesem Projekt soll die Tradition der grenzüberschreitenden Holznutzung in den Nordalpen Interessierten nähergebracht werden. Daran beteiligt sind u. a. die Flößermuseen in Bayern, das Freilichtmuseum am Schliersee und das Geigenbaumuseum in Mittenwald. Den Blickfang des aus Alt- und Neubauten bestehenden Museumsensembles in Scharnitz bildet das neuen Besucherzentrum. Der nach Plänen des Architekturbüros Benedikt Pratl errichtete, gefaltete Baukörper hebt sich durch seine dynamische Form von seiner Umgebung ab und demonstriert so das Potenzial des zeitgenössischen Holzbaus.
Gallerie
Die europäische territoriale Zusammenarbeit, die seit über 20 Jahren unter dem Namen Interreg als EU-Projekt existiert, ist Teil der Struktur- und Investitionspolitik der Europäischen Union. Damit werden grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Regionen und Städten unterstützt, die das tägliche Leben beeinflussen, zum Beispiel im Verkehr, beim Arbeitsmarkt und im Umweltschutz. Die Holznutzung war bis ins 20. Jahrhundert hinein der wichtigste Wirtschaftszweig der Nordalpen. Heutzutage sind die Spuren dieser Geschichte oft nur noch für Eingeweihte lesbar. Das Projekt soll die Wege des Holzes nun wieder sichtbar machen: Von den Wäldern seines Ursprungs über den Transport als Floß auf der Isar bis hin zu seiner Verwendung als Stützpfeiler – der sogenannten Stempel – im Salzbergbau der Saline Hall.
Ordnungs- und orientierungsstiftende bauliche
Struktur
Als Standort für das Naturpark-Infozentrums wählte
das Team des Architekten Benedikt Gratl den Talboden direkt neben
der Isar, die hier wenige Kilometer von der Quelle entfernt,
entlangfließt. Hier befindet sich die „Länd“, ein ehemaliger
Landeplatz für die in den drei Tälern geschlagenen Bäume. Der
Ortsteil zeichnet sich durch eine kleinteilige, an den auslaufenden
Berghängen situierte Bebauung sowie eine sehr inhomogene
Baustruktur aus. Ebenfalls prägend sind überproportionale,
willkürlich platziert wirkende Parkplatzflächen. Eine ordnungs- und
orientierungsstiftenden bauliche Struktur suchte man bislang
vergebens. Mit dem Neubau des Infozentrums sollte der „Startplatz“
ins Karwendel baulich akzentuiert werden. Dementsprechend verfolgte
das Architektenteam das Ziel, durch die Lage, Größe und
Ausgestaltung des Infozentrums eine Landmarke zu schaffen, die die
fehlende architektonische Orientierung des Ortsteils beendet.
Zu dem Ensemble gehört neben dem Neubau das Museum Holzerhütte. Hierfür wurde ein ehemaliges kleines Holzhaus aus dem Jahr 1913 abgebaut und in die Länd transferiert. Es diente ursprünglich den Holzarbeitern der Region als temporäres Wohnquartier. Die Holzerhütte wird heute als Ausstellungsraum genutzt, der den einfachen Alltag der Holzarbeiter erlebbar macht. Die Freifläche zwischen der Holzerhütte und dem Infozentrum bietet Platz für einen Erlebnisspielplatz. Dieser wurde als naturnahe Freifläche und interaktiver Spielplatz vom Architekturteam gemeinsam mit der Volksschule Scharnitz geplant und umgesetzt.
Geschichte und Zukunft des Holzbaus
Bei dem markanten,
gefalteten Baukörper des Infozentrums handelt es sich ebenso wie
bei der Holzerhütte um einen Holzbau. Allerdings wurde bei dem
Infozentrum der Werkstoff den heutigen technischen Möglichkeiten
und Maßstäben entsprechend eingesetzt. So kreierte das
Architektenteam eine offene Architektur mit klaren Linien, die mit
einer Vielzahl von interessanten und unerwarteten Blickverbindungen
in die Natur in deutlichem Kontrast zu der introvertierten alten
Holzerhütte steht. Dank seiner skulpturalen Erscheinung sticht das
Infozentrum dem Besucher, der sich vom Parkplatz nähert, sofort ins
Auge. Dabei verändert es sein Erscheinungsbild je nach Standort und
Blickrichtung. Die Fluchtpunkte des dynamisch emporstrebenden
Gebäudes liegen in der Natur des Karwendelmassivs verborgen.
Der fließend gestaltete Hauptraum soll Besuchende zum Verweilen animieren. Durch die verwendeten Naturmaterialien und den Duft des Holzes an Boden, Decke und Wänden sowie durch ein reichhaltiges Informationsprogramm ist die Naturregion regelrecht spürbar. Abgerundet wird das Ambiente durch ein Relief des gesamten Naturparks Karwendel sowie durch wechselnde Ausstellungen. Große Fensterflächen rahmen Bildausschnitte des umgebenden Bergpanoramas. So wirkt das Gebäude von innen wie von außen wie eine Art Teleskop, das auf die Berge ausgerichtet ist. Neben seiner Nutzung als touristisches Informationsbüro steht der Neubau auch für Veranstaltungen zur Verfügung.
Dach: Vierfach geneigtes, hinterlüftetes Gründach
Der asymmetrische Baukörper strebt mit seinen schrägen Fassaden und vierfach unterschiedlich geneigten Dachflächen nach oben und eifert so den umgebenden Bergen nach. Das Dach hebt sich dank des sehr schmalen Dachrandes nur wenig von der Fassade ab. Das Dach selbst liegt hinter der Attika verborgen als hinterlüftetes Gründach mit einer geringen Neigung von bis zu 12°. Während die Fassade des Holzbaus mit horizontaler Sichtschalung versehen ist, ist das Dach extensiv begrünt. Durch das skulpturale Erscheinungsbild sticht der Baukörper dem Betrachter sofort ins Auge, dennoch integriert er sich durch das Gründach und die hölzernen Fassaden in die umgebende Natur ein.
Dachaufbau (von außen nach innen):
- Vegetationsschicht, 10 cm
- Trennlage, 1 cm
- Bituminöse Abdichtung zweilagig, 1 cm
- Schalung, 3 cm
- Balken 16/45: Stichmaß 70 cm
- Hinterlüftung, 17 cm
- Windpapier
- Zwischensparrendämmung, 28 cm
- Dreischicht-Platte, 3 cm
- Dampfsperre
- Unterkonstruktion, 5 cm
- Sichtschalung mit Nut und Feder, 2 cm
Bautafel
Architektur: Architekturbüro Benedikt Gratl, Hall in Tirol
Projektbeteiligte: Aste-Weissteiner ZT, Innsbruck (Statik); Huter & Söhne, Innsbruck (Holzbau + Metallbau); Tschenet Licht, Innsbruck (Lichtplanung); Energie Egger, Reith bei Seefeld (HSL-Ausführung); Elektro Norz, Reith bei Seefeld (Elektro-Ausführung); Bodner Bau, Kematen (Trockenbau); Bau- und Möbeltischlerei Sumper, Innsbruck (Tischlerarbeiten); Malerei Heidinger, Haiming (Malerarbeiten); R2 Solutions, Innsbruck (Multimedia); Anna Brunner, Thaur (Grafik und Gestaltung)
Bauherr/in: Gemeinde Scharnitz
Standort: Hinterautalstraße 555b, 6108 Scharnitz
Fertigstellung: 2019
Bildnachweis: Günter Richard Wett; Architekturbüro Benedikt Gratl