Erweiterungsbau Kunstzentrum in Kasterlee

Parametrisch entwickeltes Dachtragwerk

Das Frans Masereel Centrum wurde als Arbeitszentrum für Kunstschaffende im Jahr 1972 ins Leben gerufen. Der Komplex auf dem Gelände in der belgischen Gemeinde Kasterlee, der seinerzeit vom belgischen Architekten Lou Jansen entworfen wurde, besteht aus einem kreisrunden Hauptgebäude und dreizehn dreiecksförmigen Wohnhäusern. Ein neuer Anbau erweitert die Nutzfläche des Zentrums. Entworfen wurde der eingeschossige Pavillon von Hideyuki Nakayama Architecture; die Umsetzung erfolgte in Zusammenarbeit mit Ido Avissar vom Pariser Architekturbüro List.

Die geometrische Grundform des Anbaus ist ein Kreis, der sich räumlich als Zylinder und schiefer Kreiskegel abbildet. Aus dieser Grundstruktur wurden einzelne Teile, Tortenstücken ähnlich, herausgeschnitten.
Die Außenwände des Kegels sind vollständig verglast, wodurch ein Dialog zwischen Innen- und Außenraum, Besuchern und Kunstschaffenden hergestellt wird.
Als Ausstellungsfläche und Produktionsstätte dient der neue Atelieranbau, der von Hideyuki Nakayama Architecture aus Tokio und dem Pariser Architekturbüro List Architecture Urbanisme entworfen wurde.

Entwurfskonzept

Der neue Gebäudeflügel wurde als Hybridform entwickelt, der sowohl als Ausstellungsfläche als auch Produktionsstätte für die Kunstschaffenden vor Ort dient. Die Geometrie, die dem Gebäude zugrunde liegt, ist denkbar einfach und zugleich elementarer Entwurfsparameter, der sich ebenso in der Konstruktion des Gebäudes manifestiert. Ausgangspunkt ist der Kreis, der sich räumlich als Zylinder und schiefer Kreiskegel abbildet.

Die Raumstruktur ähnelt einer Torte, aus der einzelne Stücke herausgeschnitten wurden. Die damit entstehenden Sichtbeziehungen zwischen Innen und Außen sowie den herausstechenden Raumsegmenten bilden ein weiteres Entwurfsmotiv. Dadurch entstehen zwischen den Elementen geschützte Gartenflächen. So können Blickbeziehungen zwischen Künstlern und Besuchern entstehen, ohne sich im gleichen Raum zu befinden.

Der Grundriss des Pavillons besteht aus sechs Armen, die sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt formieren. Die runde Grundform legt eigentlich eine Achslage bezogen auf den zentralen Kreismittelpunkt nahe. Diese Entscheidung wurde bewusst verworfen: Die Achsen verlaufen asymmetrisch, um von jedem Betrachtungspunkt im Gebäude einen unterschiedlichen Raumeindruck zu erhalten.

Konstruktion: Reziprokes System

Der Neubau ist als Stahlbeton-Skelettbau ausgeführt, bei dem die Ausfachungen mit Kalksandstein ausgemauert sind. Auf der Außenseite fiel die Wahl auf eine für Belgien typische Vormauerschale aus rotbraunen Ziegeln. Für das Dach kam seitens der Tragwerksplaner keine klassische Sparren-Pfettenkonstruktion infrage. Die ungleiche Formgebung der einzelnen Baukörper hätte ein heterogenes und sehr stark gerichtetes, fast wirres Sparrenbild ergeben. Um die anfallenden Lasten des Dachs trotzdem und zudem elegant abzuleiten und eine homogene Dachuntersicht zu schaffen, entwickelten die Tragwerksplaner ein spezielles Stabnetzwerk.

Eingesetzt wurde hierfür der sogennante Reciprocal Frame, reziprok, da ein aufrechtes Modul je auf ein identisches Element mit umgekehrter Richtung trifft. Das dient der stützenfreien Überspannung großer Distanzen und besteht aus sich gegenseitig stützenden Holzelementen, die in Kasterlee ein einfaches, wiederkehrendes Muster bilden. Dieses Konstruktionsprinzip ist hier auf einen extrudierten Kegelstumpf adaptiert. Damit entsteht ein einzigartiger Raum, der keine Richtungen vorgibt und sich über alle Gebäudeelemente homogen spannt.

Das Stabnetzwerk besteht aus 762 vorgefertigten Holzbalken mit einem Querschnitt von 80 x 230 mm und unterschiedlichen Längen bis zu maximal sechs Metern. Dank der Kombination aus lastableitenden Außenwänden und der selbsttragenden Dachstruktur konnte der Grundriss weitestgehend stützenfrei ausgeführt werden. Die Holzbalkenanschlüsse sind je nach Position unterschiedlich, durch den hohen Vorfertigungsgrad gestaltete sich die Umsetzung dennoch verhältnismäßig einfach.

Parametrische Planung

Um die optimale Dachkonstruktion für die räumlichen, konstruktiven und gestalterischen Gegebenheiten zu finden, führte das Ingenieurbüro Bollinger und Grohmann im Vorfeld umfassende Computerberechnungen durch, aus denen unzählige Modelle komplexer Tragwerke erarbeitet wurden. Dafür mussten zunächst die wichtigsten Parameter festgelegt werden, die das endgültige Tragwerk bestimmten: Dazu gehörten unter anderem die Höhe des Kegels, der gewünschte Kuppeleffekt, die Dichte des Stabnetzes aus Holz und die Anzahl der Verbindungsknoten sowie die bestmögliche vertikale und horizontale Lastverteilung.

Für diese Berechnungen kamen verschiedene parametrische Tools zum Einsatz, die während des gesamten Entwurfsprozesses genutzt wurden. Dennoch war der Prozess nicht allein vom Algorithmus bestimmt. Er erforderte ergänzenden Input von verschiedenen Seiten – sowohl architektonisch, strukturell als auch in Bezug auf eine konstruktive Logik des Dachtragwerks.

Der Algorithmus kann also als unterstützendes Werkzeug verstanden werden, mit dessen Hilfe unzählige Varianten in kürzester Zeit erstellt werden können – ein Prozess, der händisch den Zeitrahmen eines solchen Projekts sprengen würde. Dennoch bleiben die endgültigen Entwurfsentscheidungen bei den Planenden. Ein Eingreifen des Menschen kann dabei also nicht ausbleiben.

BIM-Einsatz

Neben den parametrischen Entwurfs- und Konstruktionstools kam ein zentrales BIM-Modell zum Einsatz, mit dessen Hilfe Funktionalität, Qualität, die Einhaltung der Kosten und Termine sowie die Koordination der Planungsbeteiligten trotz hoher Komplexität des Entwurfs sichergestellt werden konnte. Das Modell wurde vom belgischen Ingenieurbüro Bureau Bouwtechniek in Zusammenarbeit mit Bollinger und Grohmann erstellt und koordiniert. -tw

Bautafel

Architektur: LIST Architecture Urbanisme, Paris; Hideyuki Nakayama Architecture, Tokio
Projektteam: Ido Avisar, Emily Game, Quentin Madiot, Thais de Roquemaurel
Projektbeteiligte: Bollinger + Grohmann, Paris (Tragwerksplanung); Bureau Bouwtechniek, Antwerpen (ELT-Planung); Bureau Bouwtechniek, Antwerpen und Bollinger + Grohmann, Paris (BIM-Modell); Vanhout.Pro, Turnhout (Bauleitung); Reynaers Aluminium, Dortmund (Fenster; Nelissen, Lanaken (Backsteinfassade); Rockwool, Gladbeck (Dämmung); Timberframing, Nivelles (Holzstruktur); Ney & Partners, Brüssel (ausführende Ingenieure); Rhino, Barcelona (3D-Modellierungssoftware: Rhinoceros und Grasshopper); Karamba 3D, Wien (Parametriesoftware); Octopus Deploy (Parametriesoftware); Revit, München (Software); ComputerWorks, Lörrach (BIM-Software Vectorworks)
Bauherrschaft: Vlaamse Overheid / Abteilung für Kultur, Jugend, Sport und Medien – Frans Masereel Centrum
Fertigstellung: 2019
Standort: Masereeldijk 5, 2460 Kasterlee, Belgien
Bildnachweis: Alain Potignon, Paris; List & Hideyuki Nakayama, Tokio; Jeroen Verrech, Brüssel

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