Erweiterung der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart

Lesen mit Ausblick hinter aufgefalteter Fassade

Welche Rolle spielt die Bibliothek, gerade im Angesicht der Digitalisierung, für die Stadt? Anlässlich einer Erweiterung der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart ist diese Frage mit der Herausforderung verbunden worden, einen Umgang mit der autogerechten Stadt der Nachkriegsjahrzehnte zu finden. Entstanden ist auf diese Weise eine Bibliothek, die sich von Moden und Dogmen löst, um den ganz einfachen Bedürfnissen der Lesegäste auf elegante Weise gerecht zu werden.

Der Zubau, der das Bestandsgebäude von Horst Linde ergänzt, wurde nach Plänen des Büros Lederer Ragnarsdóttir Oei Architekten errichtet.
Nicht anders als im Entwurf der nahen Neuen Staatsgalerie galt es hierbei einen Umgang mit der vielbefahrenen, mehrspurigen Straße zu finden, die die Stuttgarter Innenstadt durchschneidet.
Wo aber der Bau von Stirling, Wilford, and Associates als beispielhaftes Projekt der Postmoderne gilt, bediente man sich bei der Bibliothekserweiterung eines architektonischen Ausdrucks, der an ausgewählte Vorbilder der Moderne denken lässt.

An Stelle der Neckarstraße wurde in den 1960er-Jahren eine achtspurige Furche durch die Stuttgarter Innenstadt geschlagen. Als Barriere, die bis heute quer durch die südwestdeutsche Landeshauptstadt verläuft, stellt die Konrad-Adenauer-Straße die Architektinnen und Architekten, die an ihren Rändern bauen, vor beträchtliche Herausforderungen. So sahen sich etwa James Stirling und Michael Wilford bei der Erweiterung der Stuttgarter Staatsgalerie verpflichtet, dem Museumsbau nicht nur einen monumentalen Ausdruck zu verleihen, sondern zugleich dem Skulpturengarten die gebotene Stille zu verschaffen. Auch indem sie dem Ausstellungsbau dazu eine Rotunde einschrieben, die an das Alte Museum Karl Friedrich Schinkels in Berlin erinnert, geriet das Gebäude zu einem Lehrbuchbeispiel der Architekturpostmoderne. Demgegenüber trat das Stuttgarter Büro Lederer Ragnarsdóttir Oei mit seinem Zubau der Württembergischen Landesbibliothek das Erbe einer Moderne an, das sich gerade an diesem Ort als schwierig erweist. Statt jedoch eine funktionalistische oder technoeuphorische Tradition aufzugreifen, lässt das Erweiterungsgebäude an die Versuche der späten Vierziger- und Fünfzigerjahre denken, der Moderne ein menschlicheres Antlitz zu verleihen.

In der Tradition einer 'anderen Moderne'

Vor dem Bestandsbau von 1970 positioniert, der auf einen Entwurf des Architekten Horst Linde zurückgeht und mit der Erweiterung durch einen Steg verbunden ist, säumt das Bibliotheksgebäude die vielbefahrene Bundesstraße. Sogleich fällt die feine Gliederung der hell gefärbten Betonfassade auf: An die unteren beiden Geschosse, die jeweils eine Reihe bodentiefer Fenster aufweisen, schließt bulläugig ein Mezzanin an. Darüber aber finden sich zwei Etagen, in denen die Leseplätze hinter einer aufgefalteten Hülle liegen. Während die Fassade somit Assoziationen zu expressionistisch erachteten Vorbildern der Weimarer Republik erweckt, lässt die Esse, die vor der südöstlichen Fassade emporwächst, einerseits an die gläsernen Vasen von Aino und Alvar Aalto denken, die fast sinnbildlich für das Design einer weniger strengen 'anderen Moderne' stehen – andererseits erinnert sie an den Schornstein, der Le Corbusiers Unité d'habitation in Marseille einem Dampfschiff nur noch ähnlicher macht.

Klare Gliederung, ehrlicher Beton

Entsprechend der mediterranen Wohnmaschine, die als frühes Zeugnis einer brutalistischen Architektur aufgefasst wurde, sind im Inneren der Bibliothekserweiterung unbehandelte Betonoberflächen bestimmend, die sich mit einem lindgrünen Teppichboden abwechseln. Während die Cafeteria, auf Straßenniveau zu finden, vom Trottoir aus zu erreichen ist, ist erst der Sockel zu erklimmen, um zum Haupteingang zu gelangen. Von dem höhergelegenen Vorplatz aber gelangen die Gäste durch das Foyer zur Buchrückgabe wie auch zu den Veranstaltungsräumen – oder, längs des Informationstresens, zu den beschrankten Sälen. Wie aber die Absicht, nicht allein einen weiteren Solitärbau längs der Bundesstraße zu platzieren, die Entscheidung für einen rechtwinkligen Grundriss bestimmte, eignet den Innenräumen auch nicht das organische Spiel, wie es etwa Hans Scharouns Berliner Staatsbibliothek auszeichnet. Vielmehr zeigt sich der Plan durch zwei Erschließungsbereiche klar gegliedert: Indem sie den Baukörper in seiner Länge durchlaufen, scheiden sie jedes der Geschosse in drei Bereiche.

Fenster: Glas gegen Kupfer

Dabei wird der mittlere Bereich im ersten Obergeschoss durch Regale eingenommen, während auf der Straßenseite, oberhalb des Veranstaltungssaals, Arbeitsplätze angeordnet sind und die gegenüberliegende Front durch Büroräume begleitet wird. In der obersten Etage hingegen wurde eine umgekehrte Anordnung gewählt, sodass die Lesetische, durch Öffnungen in der gefalteten Dachkonstruktion belichtet, das Zentrum bestimmen und zu beiden Seiten durch Regalreihen gefasst sind. Dazwischen aber, im zweiten und dritten Geschoss, können die Leserinnen und Leser hinter der aufgefächerten Fassade Platz nehmen. Gegen die Grundrissgeometrie gekippt, ist jede der eingeschnittenen Zacken mit einer Festverglasung wie auch einer kupfernen Seite versehen, sodass nicht allein die Ansicht belebt, sondern auch ein Bezug zur Materialität des Lesesaals im Altbau hergestellt wird. Teils opak, teils transparent, sodass sich den Lesegästen zum Teil beeindruckende Ausblicke über die Stuttgarter Innenstadt bieten, beschert die sägezahnartige Konfiguration einem jeden Platz die für die Lektüre gewünschte Intimität – ohne die Lesegäste dabei in Separees zu vereinzeln. –ar

Bautafel

Architektur: Lederer Ragnarsdóttir Oei Architekten, Stuttgart
Projektbeteiligte: Leonhardt, Andrä und Partner, Stuttgart (Tragwerksplanung);
ZWP, Stuttgart (Gebäudetechnik); Inros Lackner, Rostock (Elektroplanung); GN Bauphysik, Stuttgart (Bauphysik); TRIAS, Stuttgart (Brandschutz)
Bauherrschaft: Land Baden-Württemberg, Stuttgart
Fertigstellung: 2020
Standort: Konrad-Adenauer-Straße 10, 70173 Stuttgart
Bildnachweis: Brigida González, Stuttgart

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Bei einem stehenden Fenster ist die Fensterhöhe ein Vielfaches der Fensterbreite, während bei einem liegenden Fenster die Fensterbreite um ein Vielfaches größer ist als die Fensterhöhe (im Bild: stehendes Fenster in einer Metallhaut).

Bei einem stehenden Fenster ist die Fensterhöhe ein Vielfaches der Fensterbreite, während bei einem liegenden Fenster die Fensterbreite um ein Vielfaches größer ist als die Fensterhöhe (im Bild: stehendes Fenster in einer Metallhaut).

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