Messenachbericht Cersaie 2021 - Teil I
Wie geht Messe in Zeiten der Pandemie? Unser Autor Michael Spohr hat sich auf den Weg nach Bologna gemacht und eine Cersaie unusual entdeckt. Von kreativen Lösungen für halbvolle Hallen, der neuen Bedeutung der Farbe Blau und der Wiederentdeckung japanischen Kunsthandwerks handelt der erste Teil unseres Messenachberichts.
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Nach einem Stillstand von fast 15 Monaten – mit nur einer kurzen Unterbrechung im Herbst 2020 – fanden in Italien im September 2021 wieder Messen statt – nach dem Mailänder Möbelsalon auch die international wichtigste Fachausstellung für Keramikfliesen Cersaie und einen Tag später das Natursteinpendant Marmomac. Wer sich allerdings eine Rückkehr der Messenormalität erwartet hatte, sah sich getäuscht: Trotz aller Hoffnung auf ein multisensuales Markenerlebnis mit persönlichen Kontakten und italienischem Essen drückte die Pandemie den Veranstaltungen ihren Stempel auf.
Nach der coronabedingten Absage im vergangenen Jahr hatten die Bologneser Messegesellschaft sowie der italienische Fliesenverband Confindustria Ceramica stark unter Druck gestanden, Aussteller und Besucher zu einem Präsenz-Restart auf das Messegelände zu locken. Schließlich geht es um sehr viel Geld. Daher auch die Drohung, Aussteller würden nach einer Messeabsage einen seit Jahren angestammten Ausstellungsplatz im kommenden Jahr nicht wieder zurückerhalten.
Messen stehen auch ohne Pandemie seit Jahren in zunehmendem Wettbewerb mit Online-Maßnahmen und anderen Präsenzveranstaltungen. So steigt beispielsweise seit mehr als zehn Jahren der Altersdurchschnitt von Messebesuchern kontinuierlich an: Diese sind heute überwiegend 50 Jahre und älter. In diesem Jahr kamen dann noch die pandemiebedingten Einschränkungen hinzu, die insbesondere Besucher aus Asien und Amerika aber auch aus Deutschland auf einen Cersaie-Besuch verzichten ließen. Der offiziellen Besucherzählung der Veranstalter zufolge ging die Teilnehmerzahl auf fast die Hälfte zurück (mehr als 112.000 Besucher 2019, mehr als 62.000 Besucher 2021). Besonders stark wirkte sich hierbei der rückläufige Anteil internationaler Besucher aus, der von rund 50 Prozent auf 38 Prozent sank.
Cersaie unusual
Zur 38. Auflage des Keramiksalons hatten sich zudem knapp ein
Drittel weniger Aussteller angemeldet. Die Messe wendete daraufhin
mehrere für derartige Fälle probate Mittel an, den Besuchern nicht
zu offensichtlich das rückläufige Ausstellerinteresse zu zeigen.
Breitere Gänge, von der Messe selbst bespielte Freiflächen zwischen
den Ständen und Hallenwechsel erweckten oberflächlich den Eindruck
einer Cersaie as usual. Hierbei kam der Bolognamesse der 14.000
Quadratmeter große Hallenneubau 37 zupass, konnte man hier doch die
aus den geschlossenen Hallen 14, 15, 18 und 20 verbliebenen
Aussteller unterbringen. Die Marazzi-Gruppe nutzte diesen Umstand
sogar, indem sie sich mit insgesamt drei großen Messeständen
(Marazzi, Grande, Ragno) in gewohntem Umfang am neuen, helleren Ort
präsentierte. Während die Firmen aus der Marazzi-Gruppe dies
zusätzlich anboten, lehnten sich viele andere norditalienische
Anbieter am von der Florim-Gruppe seit Jahren praktizierten Modus
an, die Besucher an nur einem Gruppenstand zu empfangen und von
dort direkt in die eigenen Showräume zu leiten. Neu praktizierte
dies etwa die Iris Ceramica-Gruppe, die an einem Messestand unter
dem Titel „The Perfect Blend – Foresighted Surfaces for a
Sustainable Beauty“ ihre für alle Gruppenmarken neue, vom
Modeschöpfer Guillermo Mariotto designte Kollektion Luce
vorzustellen – eingebettet in ein künstlerisches Ambiente aus
digitalen Installationen und mit einer Active-Bar (mit der
gleichnamigen patentierten selbstdesinfizierenden Oberfläche). Die
übrigen Neuheiten der Firmen aus der Iris-Gruppe blieben den
Besuchern der Markenshowräume vorbehalten.
Was es Neues zu entdecken gab
Dennoch gab es auf der Cersaie 2021 auch Neues zu entdecken – in
optischer, haptischer und technologischer Hinsicht.
Natursteinimitationen bestimmten nach wie vor das Bild an vielen
Messeständen – insbesondere Marmornachbildungen. Bei genauem
Hinsehen kann man indes erkennen, wer technisch die Nase vorn hat
und wer nur im Strom mitschwimmt. Insbesondere bei den
hochglanzpolierten Platten trennt sich die Spreu vom Weizen:
Brillanz, Farbtiefe, Ebenflächigkeit und perfekte Anmutungen von
Aderungs- oder Maserungsverläufen bleiben den Anbietern
vorbehalten, die in modernisierte und neue Anlagen investiert
haben.
Der bereits vor zwei Jahren vorhandene Trend zu kräftigen Farbtönen setzt sich fort, wird aber ergänzt um Pastelltöne. So fand sich nahezu bei jedem Aussteller von Marmoroptiken ein intensives Blau, bei vielen zudem aber auch eine blasse Blauvariante, dazu leuchtendes Grün oder auch Rosa. Selbst der exklusivste Natursteinlieferant Antolini, der selbstverständlich nicht auf der Cersaie sondern auf der Marmomac ausstellte, lässt bei einem der großen italienischen Werke eine vierzig Farben umfassende Keramikserie produzieren. Diese wird zwar nicht beworben und quasi unter dem Ladentisch vertrieben; aber die Distributionsentscheidung zeigt, dass die großformatigen Marmornachbildungen sich weltweit immer mehr durchsetzen.
Auch wenn die Oberfläche von Vorbild und Imitat nicht mehr unterscheidbar ist, ist es den Fliesenherstellern indes nach wie vor noch nicht gelungen, die letzte Bastion des Natursteins zu erstürmen und den kompletten Scherben inklusive Adern einzufärben. Der junge spanische Anbieter Living Ceramics präsentierte etwa eine Weiterentwicklung der Continua-Plus-Technologie, die in der Lage ist, ein Relief in die Materialoberflächen einzuprägen – beispielsweise in Form einer nachgestellten Ammoniteneinlagerung. Living zeigte dies bei einer neuen Jura-Nachbildung, die dem fränkischen Naturstein täuschend ähnelt, aber aus unerfindlichen Gründen Kendo heißt.
Zusätzlich zur Küchenarbeitsplattenmarke Lithotech hat Living die Marke Ceramic Lab ins Leben gerufen um mit Farben, Formen und Formaten experimentieren zu können. Übrigens gewann Living Ceramics auch einen der diesjährigen „ADI Booth Design Awards“ für seine Messestandgestaltung.
Ein weiterer Award ging an Mirage für das Standkonzept „Re-union Square“. Während man das von der Messe angekündigte Hygienekonzept hier vergeblich suchte und es nach dem Vorzeigen des EU-Covid-Zertifikates am Eingang keine weiteren Kontrollen gab, musste man sich bei Mirage zum Besuch des Messestandes mit dem QR-Code auf der Eintrittskarte anmelden, konnte den als überdachten Begegnungsplatz angelegten Stand nur an einer Stelle betreten und musste ihn am entgegengesetzten Ende wieder verlassen. Die quadratische Standfläche überzeugte als ausgewogener Kompromiss zwischen der notwendigen Ausstellung der neuen Mirage-Fliesen und einem komfortablen sowie entspannenden Raum für die persönliche Kommunikation.
Einen Standdesign-Award erhielt zudem der italienische Hersteller Ceramica Sant’Agostino, der für sein Produkt FusionArt auch noch einen der drei „ADI Ceramics and Bathroom Design Awards“ erhielt – als Auszeichnung „für die ungewöhnliche Deklination natürlicher Materialien, die es ermöglicht hat, eine innovative Keramikoberfläche mit großer grafischer, materieller und chromatischer Ausgewogenheit zu erhalten“. Die Feinsteinzeugfliesen in Holz-Zement-Optik zeugen vom Trend des Mix-n-Match.
Gleiches gilt für einen weiteren Preisträger: Kintsugi von Fioranese. Die Jury urteilte hier, dass „die große technische und produktionstechnische Kompetenz des Unternehmens ein Produkt geschaffen“ habe, das drei verschiedene Materialien in einem einzigen industriellen Prozess verbessere, zudem eine alte japanische Technik neu interpretiere und ihre ganze Poesie wiederherstelle.“ Mit der neuen Technik Matter on Top wird eine bereits fertig gebrannte glasierte Keramik nochmals partiell neu glasiert, was die serientypischen neuen haptischen Effekte erzielt. Noch stärker ist dies bei der ebenfalls neu präsentierten Kollektion Schegge zu erkennen, bei der sich laut Herstellerangabe „Marmorfragmente zu unregelmäßigen Scherben unterschiedlicher Dicke anordnen, die sich auf einer Harz-Effektoberfläche in warmen Farbtönen ausdehnen“.
Den dritten Adi-Award im Bereich Keramik schließlich gewann die Cooperativa Ceramica Imola mit dem Produkt Attitude by Leonardo. Auch dahinter steckt ein innovativer neuer Produktionsprozess, in den das Unternehmen investiert hat. Mit der neuen Technologie lassen sich Chips und Körnungen perfekt lässig auf der Oberfläche anordnen – sowohl hinsichtlich der Größe als auch der Farbmischung. Die zu Imola gehörende Marke Leonardo bedient mit der Full-Body-Serie Attitude zwar auch den immer noch angesagten Terrazzotrend, allerdings in einer lockeren, verspielten Variante. Terrazzoanmutungen aller Art waren ansonsten fast ebenso häufig an den Messeständen auszumachen wie Marmorrepliken.