A House for Essex in Wrabness
Gebaute Wundertüte
Da hat sich mal wirklich einer was getraut, ist der erste Gedanke beim Anblick des Feriendomizils A House for Essex. Wie eine postmoderne Fata Morgana steht es in der weiten Landschaft der gleichnamigen englischen Grafschaft am Rand des kleinen Dorfes Wrabness. Goldene Satteldächer mit bogenförmigen Giebeln und von Skulpturen bekrönt, eine mit Pub-grünen und weißen Keramikfliesen verzierte Fassade, barocke Gestaltungselemente innen wie außen – mehr Schmuck geht nicht. Und das in einem Land, dessen Bewohner zwar für ihre Exzentrik bekannt sind, in Architekturdingen aber als konservativ gelten. Dem etwas entgegenzusetzen ist denn auch das erklärte Ziel der Bauherren, einem Verein namens Living Architecture, der den Briten zeitgenössische Architektur nahebringen will. Dafür hat er in der Vergangenheit Büros wie MVRDV, NORD Architecture oder Peter Zumthor gewinnen können, die für sie Ferienhäuser planten, die über ganz England verteilt helfen sollen, Berührungsängste abzubauen. Über das von MVRDV entworfene Balancing Barn in Suffolk haben wir im Baunetz Wissen Boden berichtet (siehe Surftipps).
Gallerie
Verantwortlich für den Entwurf des Ferienhauses in Essex sind Charles Holland vom Büro FAT (Fashion Architecture Taste) und der Keramikkünstler und Turner-Prize-Gewinner Grayson Perry, beide aus London. Anstelle eines stark heruntergekommenen Gebäudes setzten sie ein Gesamtkunstwerk aus Architektur, Skulptur und Malerei, für das sie sich auch noch eine Geschichte ausdachten. Sie handelt von (der fiktiven) Julie Cope, die ihr Leben in Essex verbrachte und von der überall im Haus Spuren zu finden sind. Man begegnet ihr auf Wandteppichen und Tapeten, eine überlebensgroße keramische Statue von ihr thront im Wohnzimmer; sie ist die schwangere Figur auf den flaschengrünen Keramikfliesen an der Fassade und sie ist es auch, die als silberfarbene Aluminiumfigur auf einem der Dachgiebel steht. Als Schutzpatronin und Hausherrin wacht sie über die wechselnden Bewohner.
Das Gebäude selbst setzt sich aus vier ineinander geschobenen Häusern zusammen, die wie Orgelpfeifen von Süden nach Norden immer größer werdend an die russischen Matroschka-Puppen erinnern und in ihrer Gesamtheit einer russisch-orthodoxen Kirche ähneln. Zwei Zugänge liegen an den beiden Enden des Gebäudes: Der auf der Südseite führt hinein, der auf der Nordseite in Richtung des nahen River Stour wieder heraus. Hinter dem Eingang liegt rechts ein kleines Bad, links geht es über eine Treppe ins Obergeschoss, gegenüber in eine einfache aber funktionale Küche mit Essplatz in der Mitte. Dahinter schließt der doppelgeschosshohe Wohnraum an, der mit einem Holzboden in Fischgrätmuster, einem Kachelofen und zwei gelb gepolsterten Sitzbänken entlang der Seitenwände ausgestattet ist. Eine Doppeltür am Ende öffnet sich zu einem Vorraum, von dem aus die Bewohner hinunter in den Garten gelangen. Im Obergeschoss gibt es ein Bad und zwei Schlafzimmer: eins mit Blick nach Osten, eins mit Blick nach Westen; beide besitzen einen begehbaren Schrank und einen internen Balkon zum Wohnraum hin. Die Wohnfläche beträgt insgesamt rund 190 Quadratmeter.
Die Innenräume sind mit einer Vielzahl von Grayson Perrys farbenprächtigen Kunstwerken bestückt. Neben Keramikfiguren und -gefäßen gestaltete er den Mosaikboden im Vorraum zum Garten und mehrere Wandteppiche – in jedem spiegelt sich das Leben von Julie und auch in jedem weiteren Detail des Hauses. Der Kronleuchter ist das Moped, das Julie bei einem Unfall tötete, auf den großen Bildern im Schlafzimmer schauen Julie und ihr jeweiliger Ehemann auf die Betten hinab, im Garten steht ihr Grabstein. Die auf den ersten Blick nur fröhlich und bunt scheinenden Arbeiten sind also nicht ganz so harmlos. Wer sich von der leisen Traurigkeit nicht abschrecken lässt, üppige Farben und Formen mag, es sich außerdem leisten kann und einen freien Termin findet, kann das Haus mieten (siehe Surftipps). Derzeit kosten zwei Nächte unter der Woche 850 Pfund, am Wochenende bis zu 1.800 Pfund, umgerechnet also zwischen 1.150 und knapp 2.500 Euro für zwei Übernachtungen.
Fliesen und Platten
Zu den handgefertigten Keramikelementen, die von Perry entworfen
wurden, gehören mehr als 1.900 dreidimensionale Fliesen, die sowohl
die Innenwände als auch die Fassade einschließlich des Schornsteins
bedecken. Auf den besonders ausgeprägten ist die nackte Julie
abgebildet, auf den grünen und weißen dreieckigen Fliesen zeichnen
sich die Formen von Sicherheitsnadeln, Herzen oder Musikkassetten
ab. Hergestellt wurden alle aus Ton, der zu feinem Mehl
verarbeitet, in sorgfältig abgestuften Mischverhältnissen
durchgefärbt und bei Temperaturen von über 1.200°C gebrannt wurde.
Dieser Herstellungsprozess führt zu besonders glatten, dichten und
robusten Oberflächen, die frostsicher, nicht brennbar und resistent
gegen äußere Einflüsse wie Sonne, sauren Regen oder Feuchtigkeit
sind.
Bautafel
Architekten: FAT Architecture, London
Künstler: Greyson Perry, London
Projektbeteiligte: Jane Wernick Associates, London (Tragwerksplanung); Atelier Ten, London (Haustechnik); Rose Builders, Manningtree (Bauunternehmen); Deakinlock, Colchester (Gartengestaltung); Millimetre, Brighton (Ausführung Inneneinrichtung); Shaws of Darwen, Darwen (Fliesenhersteller); Szerelmey, Chichester (Ausführung Fassadenverkleidung)
Bauherr: Living Architecture, London
Standort: Black Boy Lane, Wrabness / Manningtree, Essex, England
Fertigstellung: 2015
Bildnachweis: Jack Hobhouse, London