Wer kennt sie nicht: brutalistische Verwaltungsbauten, deren
schmutzigen Fassaden von der mangelnden Pflege von Gebäuden und
Wohlfahrtsstaat künden. Seit einigen Jahren erfahren die
Sichtbetonarchitekturen der 1960er- und 1970er-Jahre wieder mehr
Wertschätzung – und zunehmend auch die im Beton gebundenen
Ressourcen. Mit dem Ziel, möglichst wenig zu zerstören, machten
Canal Architecture einen früheren Verwaltungsbau in Paris
bewohnbar. Seit 2019 leben Studierende, Berufsanfänger*innen und
Kunstschaffende in der Rue de Mouzaïa 58.
Gallerie
Das siebengeschossige, L-förmige Gebäude entwarfen einst Claude
Parent und André Remondet, im Auftrag des Ministeriums für
Gesundheit und Soziales. 1974 bezog dessen Regionalstelle nicht nur
den brutalistischen Neubau, sondern auch das ebenfalls L-förmige
Nachbargebäude mit der Hausnummer 66, eine ehemalige
Nähmaschinenfabrik von Pierre Sardou und Maurice Chatelan aus dem
Jahr 1924.
2012, nach dem Auszug der Beamt*innen, übernahm die Heilsarmee
das Fabrikgebäude und richtete dort eine Notunterkunft ein. Der
Sichtbetonbau wurde hingegen zunächst von 170 Künstler*innen
besetzt. Versuche, die Nutzung als Kulturhaus zu verstetigen,
scheiterten, sodass die Polizei das Gebäude bereits im Winter 2013
räumte. Zwei Jahre später übernahm das kommunale
Wohnungsbauunternehmen RIVP die Immobilie und gab eine
Machbarkeitsstudie in Auftrag – gerade noch rechtzeitig. Claude
Parent, den die Architekt*innen zu den von ihm gestalteten
Betonfassaden befragten, verstarb 2016.
Gallerie
Fassade im Fokus
Besonders auffällig sind die wulstig umfassten Kanten des
Baukörpers und die dicken Zinnen der Brüstungsbänder, die den
Spitznamen „Mammutzähne“ erhielten. Die Masse ist weiter modelliert
durch angedeutete Türmchen, Dachterrassen und bunkerartige
Anbauten, in denen einmal die Portiers saßen. Die Fugen zeigen an,
dass es sich um Fertigteile handelt. Während die flächigen Elemente
meist glatt sind, weisen die Rundungen von Türmen und Attika kleine
Zacken auf, die von weitem wie horizontale oder vertikale Rillen
wirken. In die straßenseitige Erdgeschossfassade, eine schräge
Betonwand, hatte die Künstlerin Catherine Val Wörter und Sätze
gemeißelt.
Im Zuge des Umbaus wurde die Betonfassade instandgesetzt, von
innen gedämmt und akustisch ertüchtigt. Kräftige Eichenholzrahmen
ersetzten die filigranen Aluminiumprofile der 600 Fenster. Nach der
Räumung 2013 blieben zahlreiche Graffittis und Wandmalerien zurück.
Während man sie an den Fassaden entfernte, wurden sie im
Gebäudeinneren mithilfe einer Street-Art-Expertin erhalten und
zeugen so noch heute von der Besetzung und kurzzeitigen Nutzung als
Atelier- und Kulturhaus. Auch das Relief von Catherine Val wurde
instandgesetzt.
Gallerie
Wohnzellen statt Bürozellen
Der Altbau von 1924 wurde vollständig renoviert und beherbergt
weiterhin eine Notunterkunft der Heilsarmee. In die Büros des
Siebziegerjahrebaus passten die Planer*innen dagegen Schlafzimmer,
Küchen, Bäder und die dazugehörige Versorgungstechnik ein. Heute
gehört der Großteil der 8.000 m2 Fläche zu einem
Wohnheim des öffentlichen Studentenwerks CROUS. Die 103
Studierenden und 65 Berufstätigen leben entweder in
Einzelapartments von je 18 m2 oder in Wohngemeinschaften
für zwei bis sechs Personen. Dank der Freiheiten, die der
Skelettbau mit tragender Fassade bot, war die Transformation ohne
große Änderungen möglich: Die Raumzellen der Obergeschosse reihen
sich an den Fassaden auf, während Technik- und Sanitärräume,
Treppen und Aufzüge im Inneren, auf den Mittelachsen der zwei
Gebäudeflügel liegen.
Gallerie
Im Erdgeschoss des Westflügels erstreckt sich eine lange
Eingangshalle zur Straße, in der die Briefkästen der verschiedenen
Studierenden und weiteren Nutzer*innen des Gebäudes stehen. Zum
Blockinneren hin, im Souterrain und ersten Untergeschoss liegen 14
Maisonetten für Künstler*innen, die einen begrünten, Tageslicht
spendenden Hof umschließen. Ebenfalls im Untergeschoss, aber mit
Blick auf den Hof mit den Garagenrampen, befindet sich ein 900
m2 großer Co-Working-Space.
Beton: recherchieren, reinigen, reparieren
Während der Wettbewerbsphase wurde Canal Architecture vom Büro
Soja Architecture beraten. Das Team durchforstete die Archive,
kartographierte Schadstellen und analysierte Betonproben. Es waren
keine großen Risse oder statisch relevante Schäden zu beanstanden.
Aufgrund des Wertes der brutalistischen Architektur, empfahlen die
Architekt*innen bereits in der Wettbewerbsphase, die Fassade mit
ihrem grafischen Erscheinungsbild, ihren Fugen und ihrer
erkennbaren Serialität zu erhalten. Entsprechend entscheid man, auf
eine verdeckende Beschichtung zu verzichten und die
Betonoberflächen nur schonend zu säubern und punktuell
instandzusetzen.
Gallerie
Vor Ort wuschen die Betonkosmetiker*innen die Fassade zunächst
mit klarem Wasser. Dunkle Schleier, Ausblühungen und ähnliche
Spuren schliffen oder hackten sie ab, Graffiti entfernten sie mit
Schleifern und Abbeizmitteln. Nach dem Reinigen wurden die
freiliegenden und korrodierenden Bewehrungseisen passiviert und die
Fehlstellen reprofiliert. Dabei wurde der Reparaturmörtel nach
empirischen Tests angemischt, weil der umgebende Originalbeton
nicht immer denselben Farbton aufwies. In einigen Fällen machte
zusätzlich eine Tünche die Reparaturen unsichtbar.
Auch die Fugen zwischen den Fertigteilen wurden gereinigt und
anschließend neu abgedichtet. Zum Abschluss wusch man die
Betonoberflächen noch einmal mit klarem Wasser und geringem Druck,
ließ sie trocknen und trug ein farbloses Hydrophobierungsmittel
auf. So blieb die brutalistische Betonfassade so roh wie möglich.
2021 stufte das Kulturministerium den Bau als „Architecture
contemporaine remarquable du 20e siècle“ („Bemerkenswerte
zeitgenössische Architektur des 20. Jahrhunderts“) ein.
Bautafel
Architektur: Claude Parent und André Remondet (Bestand 1974); Canal Architecture – Patrick Rubin (Umbau 2021) Projektbeteiligte: Soja Architecture (beratender „architecte du patrimoine“ während der Wettbewerbsphase; Bestandsuntersuchung und Recherche); Khephren (Tragwerksplanung); Espace Temps (Sanitär- und Lüftungstechnik); ITAC (Akustikplanung); D’ici là (Landschaftsplanung); Valériane Mondot (Street-Art-Expertin); GTM Bâtiment – Vinci Construction France (Bauunternehmen) Bauherr*in: Régie Immobilière de la Ville de Paris (RIVP); Centre régional des œuvres universitaires et scolaires (CROUS) Fertigstellung: 2021 Standort: 58 rue de Mouzaïa, 75019 Paris, Frankreich Bildnachweis: Pierre L’Excellent und Andrea Montano (Fotos), CANAL Architecture (Pläne und Baustellenfotos)
Fachwissen zum Thema
Elementbau
Arten und Konstruktionen des Elementbaus
Nicht immer werden Betonbauteile vor Ort gegossen. Gebäude können auf verschiedene Arten auch mit Stützen, Wände und Decken aus dem Fertigteilwerk errichtet werden.
Instandsetzung
Behutsame Betoninstandsetzung
Mit dem schonenden Verfahren können alternde Sichtbetonbauten repariert werden, ohne dass sie ihre bauzeitliche Oberflächengestaltung verlieren.
Instandsetzung
Betonreinigung
In die Poren des mineralischen Baustoffs dringen Flüssigkeiten und Schmutzpartikel ein. Beim Saubermachen ist Vorsicht geboten.
Oberflächen
Hydrophobierung
Die hohe Porosität der Betonrandzone im Vergleich zum Kernbeton sorgt dafür, dass Flüssigkeiten über die Kapillare schnell und in...
BauNetz Wissen Beton sponsored by: Deutsche Zement- und Betonindustrie vertreten durch das InformationsZentrum Beton | Kontakt 0211 / 28048–1 | www.beton.org